StartNewsGesellschaftGericht verurteilt französischen Staat wegen Pflanzenschutzmittel-Schäden

Gericht verurteilt französischen Staat wegen Pflanzenschutzmittel-Schäden

Das Pariser Verwaltungsgericht verurteilte den französischen Staat wegen seiner notorischen Nachlässigkeit beim Schutz der Biodiversität vor schädlichen Pflanzenschutzmitteln. Das Gericht weist die Premierministerin und die zuständigen Minister an, alle geeigneten Massnahmen zu ergreifen, mit denen die ökologischen Schäden aus der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln repariert und künftige Schäden verhindert werden. Die klagenden Naturschutzverbände erhalten vom Staat einen Euro als symbolischen Schadenersatz. Der Verein ohneGift hat das Urteil auf Deutsch übersetzt und unter die Lupe genommen.

Text von ohnegift.ch, geschrieben von Georg Odermatt

Fünf französische Naturschutzverbände [1] erhoben anfangs 2022 eine verwaltungsrechtliche Klage gegen den Staat vor dem Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) von Paris. Sie klagten zum einen Schäden an der Biodiversität aus der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln (PSM) ein und verlangten Reparatur- und Präventivmassnahmen. Zum anderen stellten sie Anträge, um das Zulassungsverfahren für PSM zu verbessern. Mehrere der Anträge waren auf den Schutz von Bestäuberinsekten, namentlich Wildbienen und Hummeln ausgerichtet. Der Schutz von Bestäuberinsekten ist bei weitem nicht nur ein Naturschutzthema, sondern existenziell für die Landwirtschaft und den Mensch, denn ohne Bestäuberinsekten würde die landwirtschaftliche Produktion um 90 % einbrechen [2].

Bereits 18 Monate später erging das Urteil. Die kurze Verfahrensdauer ist darauf zurückzuführen, dass das angegriffene Ministerium für Landwirtschaft und Ernährungssouveränität nicht bestritt (und angesichts erdrückender Beweise auch nicht hätte bestreiten können), dass die Anwendung von PSM eine Hauptursache für die enorme Verminderung der Artenvielfalt und namentlich der Insekten-Biomasse und Vögel in Europa bildet. Ebenso wenig stellte das Ministerium in Abrede, dass in Frankreich eine Million Menschen beruflich von schädlichen PSM betroffen und 10% der landwirtschaftlichen ArbeitnehmerInnen sogar krebserregenden, mutagenen und reproduktionstoxischen PSM ausgesetzt sind. Ein wesentlicher Umstand, der zur Gutheissung der Klage führte, lag darin, dass Frankreich die bereits 2009 rechtlich verankerten Ziele zur Senkung der Umweltbelastung aus Pflanzenschutzmitteln sträflich vernachlässigt hatte.

Aus der Verantwortlichkeit des Staates leitete das Gericht Handlungspflichten ab: So werden die Premierministerin (derzeit Élisabeth Borne) und zuständigen Minister angewiesen, alle geeigneten Massnahmen zu ergreifen, mit denen die ökologischen Schäden aus der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln repariert und künftige Schäden verhindert werden.

Abgewiesene Klagepunkte zum Zulassungsverfahren

Abgewiesen hat das Gericht jedoch die Klagepunkte, welche das auch in Frankreich völlig mangelhafte Zulassungsverfahren für PSM betrafen. Das Gericht stellte zwar „schuldhafte Versäumnisse des Staates im Hinblick auf das Vorsorgeprinzip“ fest, war aber dennoch der Ansicht, dass «der Kausalzusammenhang zwischen diesen Unzulänglichkeiten und dem anerkannten ökologischen Schaden nicht sicher ist».

Am Zulassungsverfahren für PSM haben die Kläger insbesondere gerügt:

  • die mangelhafte Berechnung der vorhersehbaren Umweltkonzentrationen (Predictet Environmental Concentration, PEC),
  • die fehlende Prüfung der Auswirkungen auf zahlreiche Nichtzielarten,
  • die fehlende Prüfung von Cocktaileffekten aus dem Zusammenwirken verschiedener PSM,
  • die fehlende Prüfung indirekter Wirkungen, etwa wenn Vögel keine Nahrung mehr finden, weil die Insekten ausgerottet sind,
  • den fehlenden Einbezug der über den Boden abgeleiteten Pestizidrückstände für Solitärbienen (Anmerkung: 80 % der Wildbienen nisten im Boden),
  • die fehlenden akuten Toxizitätstests für Hummeln und Solitärbienen,
  • die fehlende Bewertung der chronischen Toxizität, Larventoxizität und subletalen Toxizität für Honigbienen, Hummeln und Solitärbienen,
  • namentlich auch für den Fall, dass ein Pflanzenschutzmittel insektentoxischer ist als der darin enthaltene Wirkstoff allein (Anmerkung: Dies ist regelmässig der Fall, weil dem PSM u.a. Netzmittel (dienen dazu, dass das Pestizid besser an den Blättern der Pflanzen haftet) beigemischt sind, welche die Giftaufnahme durch den Körper der Insekten verstärken.).

Alle Kritikpunkte treffen auch für die Schweiz sowie die gesamte EU zu.

Was hätte es bedeutet, wenn diese Klagepunkte gutgeheissen worden wären? In der EU ist das Zulassungsverfahren zweigeteilt: Auf EU-Ebene werden die Wirkstoffe zugelassen und in den EU-Ländern die Pflanzenschutzmittel (Produkte), welche solche Wirkstoffe und viele andere Bestandteile (Bsp. Netzmittel) enthalten.

Hätte das Gericht auch diese Klagepunkte gutgeheissen, wäre das EU-Zulassungsverfahren im Verhältnis zu Frankreich auseinandergebrochen. Es wäre (kreatives) „Chaos“ entstanden, weil Frankreich damit faktisch aus der EU-Regulierung ausgestiegen wäre; es hätte eine Art «Pexit» (Pestizid-Exit) stattgefunden. In der Folge hätten geschätzt rund 100 für die Artenvielfalt, Gewässer, Böden und AnwenderInnen hoch schädliche PSM verboten werden müssen. Die Landwirtschaft hätte grundlegend ökologischer ausgestaltet werden müssen.

Soviel Mut brachte das Pariser Verwaltungsgericht nicht auf. Aber immerhin ging es weiter, als alle Schweizer und europäischen Gerichte je gegangen sind.

Ein Euro als symbolischer Schadenersatz

Schliesslich sprach das Pariser Gericht den klagenden Verbänden eine Wiedergutmachung für den immateriellen Schaden aus dem Rückgang der biologischen Vielfalt zufolge Verwendung von Pflanzenschutzmitteln zu und zwar in der symbolischen Höhe von je 1 Euro. Ein solcher Schadenersatz für Umweltverbände ist ein französisches Unikum. Er kann nach dem Umweltgesetz (Code de l’environment) vor dem Verwaltungsgericht geltend gemacht werden, auch wenn die Rechtsgrundlage zivilrechtlicher Natur ist [3]. Vorliegend findet sich die Rechtsgrundlage in Art. 1246 des französischen Zivilgesetzbuchs (Code civil) [4]. Die Schweiz kennt keine solche Schadenersatzregelung.

Was passiert nun in Frankreich?

Das Gericht weist die Premierministerin und die zuständigen Minister an, «alle zweckdienlichen Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, den ökologischen Schaden zu beheben und eine Verschlimmerung des Schadens zu verhindern». Dazu muss die Regierung «das Tempo der Verringerung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln erhöhen» und «alle zweckdienlichen Maßnahmen zur Wiederherstellung und zum Schutz des Grundwassers gegen die Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln» ergreifen. Dafür hat sie Zeit bis zum 30. Juni 2024. Man darf gespannt sein, wie die Ministerien in dieser Sache vorankommen.

Was planen die Naturschutzverbände?

Die Verbände bezeichnen den Entscheid des Gerichtes als historisch, weil «es das erste Mal ist, dass der Staat für den Zusammenbruch der Biodiversität verantwortlich gemacht und seine Handlungsmöglichkeiten von der Justiz anerkannt werden». Sie bedauern jedoch, dass das Gericht ihren fundierten Rügen zur Zulassung von Pestiziden nicht gefolgt ist. Die Verbände wollen in diesem Punkt vor der oberen Gerichtsinstanz Berufung einzulegen. Die Zulassung von extrem giftigen Pestiziden stellt ihrer Meinung nach den grössten Hebel für eine Verringerung der Schäden durch Pestizide und die Verbesserung der Biodiversität dar.

Lesen Sie das ganze Urteil (auf Deutsch) hier.

Das Originaldokument des Urteils (auf Französisch) findet sich hier.

Originalpublikation auf www.ohnegift.ch

Quellen:

[1] I. ASSOCIATION NOTRE AFFAIRE À TOUS ;
II. ASSOCIATION POLLINIS ;
III. ASSOCIATION BIODIVERSITE SOUS NOS PIEDS ;
IV. ASSOCIATION NATIONALE POUR LA PROTECTION DES EAUX ET RIVIERES TRUITE-OMBRE-SAUMON;
V. ASSOCIATION POUR LA PROTECTION DES ANIMAUX SAUVAGES ET DU PATRIMOINE NATUREL.

[2]  https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/insekten-und-spinnen/info/22683.html     

[3] Art. 142-1 Code de l’environment : „Toute association ayant pour objet la protection de la nature et de l’environnement peut engager des instances devant les juridictions administratives pour tout grief se rapportant à celle-ci.“ Übersetzt: „Jeder Verein, dessen Zweck der Schutz der Natur und der Umwelt ist, kann mit allen diesbezüglichen Beschwerden vor den Verwaltungsgerichten klagen.“

[4] Übersetzt:  „Jede Person, die für einen ökologischen Schaden verantwortlich ist, ist verpflichtet, diesen Schaden zu ersetzen.“

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