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«Neue Zürcher Stadtfauna» – im Gespräch mit den Autoren

Die «Neue Stadtfauna – 700 Tierarten der Stadt Zürich» von Stefan Ineichen, Max Ruckstuhl und Stefan Hose erschien im September beim Haupt Verlag. Naturschutz.ch hat sich mit den Autoren über Herausforderungen, Überraschungen und das Zürcher Wappentier unterhalten.

Wer dieses Jahr an einem warmen Sommerabend über den belebten Escher-Wyss-Platz spazierte, könnte vom Gezirpe der nur ungefähr 10-20 Millimeter kleinen Weinhähnchen – auch Buschgrillen genannt – überrascht worden sein. Trotz ihrer winzigen Grösse ist sie nämlich in der Lage den Verkehrslärm zu übertönen. Ursprünglich eine südliche Art, ist sie nur eine der vielen Beispiele der neu hinzugekommenen Arten seit der Erstausgabe der «Neuen Stadtfauna». Auch der Kurzschwänzige Bläuling aus dem Süden oder der Waschbär aus Nord- und Mittelamerika wurden zu neuen Stadtbewohnern. Neue Arten kommen also hinzu – andere Arten werden durch die für sie ungünstigen Bedingungen jedoch zurückgedrängt. Beim Durchblättern der «Neuen Stadtfauna» stösst man auf so manch weitere Überraschung. Wer hätte gedacht, dass Städte gewisse Bewohner stressresistenter machen? Denn Stadtamseln erwiesen sich im Versuch klar stresstoleranter als ihre identisch aufgezogenen Artgenossen von Bruten aus dem Wald. Die Verhaltensanpassung an die Habitate urbaner Ökosysteme wirkt sich damit auch bereits auf genetischer Ebene aus.

«Neue Stadtfauna» – Publikation für eine breite Leserschaft

Das Vorgängerexemplar «Stadtfauna» aus dem Jahr 2010 stiess auf grosses Interesse, ist mittlerweile jedoch vergriffen. Eine deutliche Veränderung der Stadtfauna in den letzten Jahren bewegten Herausgeber, Verlag und die Stadt Zürich eine komplett überarbeitete Auflage zu erarbeiten. Dokumentiert und Beschrieben sind wichtige Aspekte der Dynamik städtischer Lebensräume und der Wandel deren Tierwelt. Besonders reich machen das Buch die 700 bebilderten Artportraits. Wie in der ersten Version werden praktisch sämtliche in der Stadt Zürich nachgewiesenen Spezies der Artengruppen Libellen, Heuschrecken, Tagfalter, Amphibien, Reptilien, Vögel, Fische und Säugetiere abgebildet. Zusätzlich werden weitere, ausgewählte Arten, aus weniger gut dokumentierten Verwandschaftsgruppen aufgeführt. Ein bedeutender Unterschied zwischen den Ausgaben von 2010 und 2022 ist, dass für die «Neue Stadtfauna» weit mehr Daten zur Verfügung standen, als dies bei der alten Version der Fall war. So wurden in der neuen Ausgabe einige unterdessen ausgestorbene Arten gestrichen und die Artportraits mit über 100 bisher nicht erfassten Arten ergänzt.

Die ausführliche Überarbeitung resultiert in einem detailierten, umfassenden Rahmenwerk, das durch die reiche Bebilderung nicht an Leichtigkeit einbüsst. Die klare Strukturierung in prägnante, sogenannte «Schlaglichter auf die städtische Fauna und ihre Lebensräume» sowie die Artportraits als Hauptteil, machen das Buch für eine breite Leserschaft ansprechend. So werden neben Artenkenntnissen auch wichtige Aspekte der städtischen Fauna und ihres Wandels thematisiert. Die Artgruppen sind zusätzlich optisch durch die Farbschnitte der Buchseiten deutlich voneinander unterscheidbar und erleichtern damit die Suche. Die Artportraits zeigen nebst einem Bild, Piktogramme als Orientierungshilfe, wo die Art selbst beobachtet werden kann. Auch der Gefährdungsstatus gemäss Roter Liste des IUCN wird angegeben. Arten bei denen die Datengrundlage es erlaubt haben zusätzlich eine Verbreitungskarte in der Stadt Zürich.

Die bedeutende Neuauflage der «Stadtfauna» überrascht bezüglich Stadtzürcher Tierwelt einmal mehr. Mit bekannten aber auch einigen dem Laien unbekannten Arten und Fakten weckt das Buch das Interesse und die Begeisterung für die Stadtnatur vor der Zürcher Haustür. Es könnte sogar als Motivation dienen, die Augen beim nächsten Stadtspaziergang offen zu halten um eine Grosse Königslibelle, einen Echten Widderbock, eine Schlingnatter oder gar ein Weinhähnchen zu entdecken?

Gespräch mit Autoren Stefan Ineichen und Max Ruckstuhl

Naturschutz.ch hat sich mit den Autoren Stefan Ineichen und Max Ruckstuhl über die Neuauflage unterhalten. Stefan Ineichen ist Biolog und Schriftsteller, Projektleiter von «NahReisen», selbständig tätig im Naturschutz und Stadtökologie sowie Dozent am Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Wädenswil. Max Ruckstuhl ist ebenfalls Biologe, mit Fachrichtung Zoologie und Leiter Fachbereich Naturschutz und Stadtökologie bei Grün Stadt Zürich.

Seit der älteren Auflage sind 12 Jahre vergangen.
Wie hat sich die Dynamik in der Stadtfauna verändert?

Herr Ruckstuhl: «Wir haben selber gestaunt, welche Veränderungen in den letzten 12 Jahren stattgefunden haben. Letztlich hat dies dazu geführt, dass wir hundert Arten mehr porträtieren mussten. Ein wichtiger Treiber ist die Klimaveränderung. Die zunehmende Wärme führt dazu, dass Arten aus dem Mittelmeerraum bei uns Fuss fassen konnten. Aber auch die zunehmende Mobilität der Menschen und der verstärkte globalisierte Handel bringt immer wieder neue Tierarten aber auch Pflanzenarten zu uns. Andererseits bereitet die rasante Bautätigkeit und der Verlust an alten Grünflächen im Siedlungsgebiet einigen Tierarten Mühe.»

Herr Ineichen: «Sehr deutlich zeigt sich im Vergleich zur „alten“ Stadtfauna der Einfluss der Klimaerwärmung – in städtischen Räumen wird die globale Erwärmung ja noch durch das trocken-warme Stadtklima überlagert und verstärkt. In vielen Artengruppen – besonders unter den Insekten und den Spinnen – sind zahlreiche Arten neu aufgetreten, die zuvor auf die Alpensüdseite oder den Mittelmeerraum beschränkt waren. Und der grossen Blauschwarzen Holzbiene, die wir früher nur in den Sommerferien im Süden beobachten konnten, begegnen wir in Zürich unterdessen schon an sonnigen Februartagen. Während sich die Biodiversität im Stadtzürcher Wald und auf landwirtschaftlich genutzten Flächen offenbar recht gut hält, so sind im Siedlungsraum im Zuge der baulichen Verdichtung und der Transformation des Stadtraums während der letzten Jahre riesige Flächen als Lebensraum weitgehend zerstört oder entwertet worden. Die Populationen klassischer Gartentiere wie Igel oder Blindschleiche drohen zu erodieren.»

Was überrascht Sie an der Zürcher Stadtfauna am meisten?

Herr Ineichen: «Gewisse Arten und Lebensraumtypen lassen sich ausgezeichnet fördern: So wurden beispielsweise 2019 auf einer kleinen städtischen Restfläche oberhalb des Bahnhofs Stadelhofen anstelle von monotonen Bodendeckern und invasiven Neophyten Wildgehölze und Stauden gepflanzt und eine Wildblumenwiese angelegt. Schon im folgenden Jahr konnten auf dieser früher für Blütenbesucher völlig uninteressanten Fläche 65 Wildbienenarten gezählt werden.»

Herr Ruckstuhl: «Es ist nach wie vor die grosse Vielfalt die mich überrascht. Aber auch die Geschwindigkeit, mit der sich gewisse Arten innerhalb weniger Jahre bei uns beinahe flächendeckend etabliert haben, ist beeindruckend. Ich denke beispielsweise an den Kurzschwänzigen Bläuling. In der ersten Ausgabe wurde er noch nicht porträtiert und heute ist er in der ganzen Stadt Zürich auf extensiv genutzten Wiesen anzutreffen. Es gibt aber auch Verlierer. Dass beispielsweise die Igelpopulation innerhalb weniger Jahre so stark zurückgegangen ist, ist für mich eine bittere Erkenntnis. Es zeigt, dass unsere Grünflächen im Siedlungsgebiet stark unter Druck sind. Die zunehmende bauliche Verdichtung wird dies in den nächsten Jahren noch verstärken.
Auch bei grossen Tieren ist einiges geschehen. Beispielsweise konnte sich der Biber entlang von Limmat, Sihl, Glatt und Leutschenbach ausbreiten. Solche Entwicklungen werden auch den Menschen wahrgenommen und führen zu schönen und nachhaltigen Erlebnissen.»

Welche Arten denken Sie kommen in der nächsten Auflage dazu?

Herr Ruckstuhl: «Mit der Zunehmenden baulichen Verdichtung werden etliche Tiere Mühe haben. Es werden weitere Arten aus dem Mittelmeerraum aber auch aus anderen Kontinenten bei uns eintreffen. Die einen werden sich gut integrieren, andere werden sich möglicherweise auffällig invasiv verhalten. Die Dynamik bei den Insekten ist gross. Bei grösseren Tieren wie Vögel sind weitere Zuwanderungen möglich. Die Mittelmeermöwe wird in den nächsten Jahren auf Flachdächern brüten. Und die Flussseeschwalbe hat auf die Fördermassnahmen auf dem Kiesdach der Wasserschutzpolizei nach Redaktionsschluss bereits die ersten Jungen aufgezogen. Die Neue Stadtfauna ist also bereits wieder veraltet.»

Herr Ineichen: «Auch im nächsten Jahrzehnt ist mit einer Zunahme an Arten zu rechnen, die ihren Verbreitungsschwerpunkt im Mittelmeergebiet haben, im südlichen Europa oder in Nordafrika. Ebenso werden dank der globalen Handels- und Verkehrsbeziehungen weitere Arten aus Asien oder Amerika den Weg nach Zürich finden. Schon recht bald ist die Ankunft der aus dem Schwarzen Meer stammenden Quaggamuschel zu erwarten, die in der Schweiz schon in verschiedenen Gewässern vorkommt und die Anlagen der Wasserversorgung zu verstopfen droht. Die Tigermücke, die bisher nur punktuell aufgetreten ist, wird sich auch in Zürich etablieren. In einigen Jahren werden vielleicht auch Geckos, die bereits das Tessin erreicht haben, den Weg in die Städte nördlich der Alpen finden.»

Welches Wappentier würde die Stadt Zürich tragen?

Herr Ineichen: «Das könnte die Mauereidechse sein: Gegenwärtig ist die schon fast explosionsartige Ausbreitung dieses Reptils auffällig, das in der Schweiz ursprünglich nur auf der Alpensüdseite und im Jura vorgekommen ist und sich in Zürich lange auf das Bahnareal beschränkt hat. Unterdessen ist die Mauereidechse praktisch im ganzen Stadtgebiet zu finden und schickt sich an, auch schattige und feuchte Lebensräume zu besiedeln. Sie scheint auch die Populationen anderer Arten zu beeinflussen: sie kann die Zauneidechse verdrängen, an Wildbienen-Nisthilfen Insekten auflauern und Turmfalken oder Schlingnattern als Nahrung dienen.»

Herr Ruckstuhl: «Im Siedlungsgebiet gehören die Gebäudebrüter zu den auffälligsten Tierarten. Ich wünsche mir, dass Bauherrschaften und Hochbauarchitekten Alpensegler, Mauersegler und Fledermäuse an neuen Gebäuden aktiv fördern. Grosse Hoffnung setze ich in den Wanderfalken. Ich bin zuversichtlich, dass in den nächsten Jahren wieder ein Brutpaar auf einem der Kamine der Heizkraftwerke erfolgreich Junge aufzieht.»

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