StartHintergrundWissenWisente kehren in den Jura zurück

Wisente kehren in den Jura zurück

Ein Meilenstein für die grössten landlebenden Säugetiere Europas: Im September 2022 konnten dank des Projektes «Wisent Thal» fünf Wisente wieder den Boden im Solothurner Jura betreten. Im langjährigen Forschungsprojekt wird das Potenzial einer zukünftigen Wiederansiedlung von Wisenten in der Schweiz untersucht.

Wisente in der Schweiz in Halbfreiheit anzutreffen ist rund 1000 Jahre nach der Ausrottung wieder möglich: Seit Kurzem sind auf der Sollmatt in Welschenrohr wieder Wisente zu Hause. Ein Besuch vor Ort zeigt, wie aufmerksam und freundlich die Tiere der letzten wilddiebenden Rinderart sind. Obwohl stark mit dem Fressen am Waldrand beschäftigt, registrieren sie auch Besucher von weit her. Die fünf Tiere – drei Weibchen zwischen drei und fünf Jahren, ein dreijähriger Stier und ein Kalb dieses Jahres – lassen sich durch den vergleichsweise schwachen Hinterleib und die muskulöse Vorderpartie leicht erkennen. Das Kalb der Welschenrohr-Herde ist auffallend hochbeinig. Nähert man sich der Herde, zeigen die Tiere nebst Skepsis auch eine grosse Neugierde. Nur noch durch einige dünne Elektrodrähte getrennt, erkunden sie die Besuchenden schnüffelnd – um kurz darauf friedlich weiter zu fressen. Die freundliche Begegnung zeigt, dass Wisente trotz ihrer einschüchternden Grösse sehr friedliche Tiere sind – sie gelten sogar als friedlicher wie Kühe. Einem nächsten Treffen ohne Hag scheint damit nichts mehr im Weg zu stehen.

Der Stier in Welschenrohr beschnuppert die Kuh. Sie gehören zu den fünf Tieren der Versuchsherde.

Startschuss für das Schweizer Pionierprojekt

Bis zum Mittelalter besiedelte der Wisent fast ganz Europa. Dann wurde er beinahe überall ausgerottet. Überlebt hat der Wisent nur dank geschützten Jagdgebieten von Adeligen, Wildgehegen und zoologischen Gärten. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden die letzten Wildtiere im Białowieża-Gebiet im heutigen Polen und Weissrussland ausgerottet. 1926 und 1927 tötete im Kaukasus ein Wilderer die allerletzten Wildtiere. Wie beim Steinbock ist die Hauptgefahr für Wisente gegenwärtig die sehr beschränkte genetische Vielfalt: Alle heute lebenden Tiere stammen von lediglich zwölf Elterntieren ab. 1923 begann eine Wiederaufzucht mit 54 Tieren, die in zoologischen Gärten und Wildgehegen überlebt haben. 1952 wurden schliesslich im Białowieża-Nationalpark in Polen die ersten wieder komplett freilebenden Wisente Europas ausgesetzt. 2013 folgten Tiere im deutschen Rothaargebirge. Dort leben sie, so wie es auch in der Schweiz geplant ist, in normal genutzten Wirtschaftswäldern. Mit einer freilebenden Wisentpopulation im Jura könnte auch die Schweiz einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der nach wie vor gefährdeten Tierart leisten. Da insbesondere die landwirtschaftliche Nutzung im Jura jedoch weniger extensiv ist wie im Rothaargebirge ist nicht sicher, ob Erfahrungen aus anderen Ländern auf die Schweiz übertragen werden kann. Deshalb wird vor der Wiederansiedlung untersucht, wie sich die Tiere im Jura verhalten, welchen Einfluss sie auf die Landschaft haben und wie ihre Verteilung und das Verhalten bei Bedarf beeinflusst werden könnten.

Um das Projekt Wisent Thal zu realisieren und diese Fragen zu beantworten wurde 2017 der Verein Wisent Thal gegründet. Während zehn Jahren soll mit einer gut überwachten und betreuten freilebenden Wisent-Testherde aus zehn bis maximal 25 Tieren wissenschaftlich überprüft werden, ob der Jura für Wisente als Wildtiere geeignet ist und ob sie als Wildtiere tragbar sind. Gleichzeitig soll durch das Projekt die Bevölkerung der Region mit der Tierart vertraut gemacht werden.

Das Konzept hinter dem Projekt besteht aus drei sich ergänzenden Komponenten: eine kontrollierte Auswilderungsherde, ein Schaugehege und ein Wisent-Ranger. Die kontrollierte Auswilderung der Test-Wisentherde geschieht in drei Phasen, wobei die Grösse des Gebietes jeweils zunimmt. In den ersten beiden Phasen sind die Wisente noch eingezäunt, in der letzten Phase können sie sich dann frei bewegen. Da viele anthropogene Grenzen wie Weidezäune oder Strassen bestehen, wird vermutet, dass die Tiere aber auch in der dritten Phase den Wald nur sehr begrenzt verlassen werden. Die erste Phase begann im September 2022 und dauert rund zwei Jahre. Die Test-Wisentherde von zu Beginn fünf Tieren hält sich dabei im rund 51 Hektaren grossen späteren Schaugehege auf. Nach einer mehrmonatigen, aktuell laufenden Eingewöhnungsphase werden die Untersuchungen zum Verhalten und den allenfalls aufkommenden Konflikten gestartet. Das Gebiet der ersten Phase ist teilweise von einem elektrischen und teilweise «semi-permeablen» Zaun aus Drahtseilen umgeben. Zweiteren können andere Wildtiere wie Gämsen oder Rehe ohne Weiteres überwinden.

Zaunverlauf in der ersten Phase von zwei Jahren. Der Elektrozaun ist gelb, der semipermeabler Zaun aus Drahtseilen rot markiert. Die roten Kreise sind Tore, die blauen Vierecke Wasserstellen und der blaue Kreis eine Quelle. Quelle: Verein Wisent Thal, © Karte: swisstopo

In der zweiten Phase wird das eingezäunte Gebiet auf 106 Hektaren vergrössert. Darin wird während drei Jahren die Tragbarkeit der Wisente und deren Verhalten untersucht. Das Gebiet wird dabei weiter normal land- und forstwirtschaftlich sowie jagdlich genutzt. Auch für Fussgänger und Forstfahrzeuge bleibt das Gelände mittels Durchfahrten und Wegen benutzbar. Das Gebiet dieser Phase gehört mehrheitlich der Bürgergemeinde Solothurn und dem Landwirt und Wisent-Ranger Benjamin Brunner.

Zaunverlauf vom Auswilderungsgehege der zweiten Phase von drei Jahren. Der Elektrozaun (gelb) und semipermeabler Zaun aus Drahtseilen (rot) aus Phase eins wird teilweise übernommen. Tore sind mit roten Kreisen, Wasserstellen mit blauen Vierecken und die Quelle als blauer Kreis markiert. Zusätzlich wird ein weiterer Elektrozaun zur Gehegerweiterung installiert (blaue Linie). Quelle: Verein Wisent Thal, © Karte: swisstopo

In der dritten Phase werden fast alle Zäune abgebaut und die Wisente können sich während fünf weiteren Jahren frei im Gebiet bewegen. Einzig stehen bleibt ein Teil der Zäune aus Phase eins, welche nun ein Schaugehege bildet. Darin wird eine zweite, kleinere Wisentherde angesiedelt. Sie dient dem Ziel, die noch weitgehend unbekannte Tierart der Bevölkerung und Besuchenden näher zu bringen, allfällige Angst vor den Tieren zu nehmen und für praxisbezogene Studien. Der Wisent-Ranger ist Anlaufstelle bei Fragen, Beratungsbedarf und für Personen die mit Wisenten in Kontakt oder in Konflikt kommen.

Der Aufenthaltsort der Auswilderungsherde ist danke GPS-Halsbändern immer bekannt. Während allen Phasen wird die Nahrungswahl und das Verhalten der Herde gegenüber Gebäuden, Vieh sowie dem Menschen untersucht und dazu geforscht. Eine systematische Erfassung allfälliger Wildschäden ermöglicht eine Abgeltung der Betroffenen. Da die Tiere über die gesamte Projektzeit Eigentum des Vereins Wisent Thal sind, haftet dieser auch für allfällige Schäden jeglicher Art.

Das GPS-Halsband welches die Kuh trägt, gibt Informationen zu ihrem Verhalten und Aufenthaltsort preis und dient der Forschung. Quelle: © Wisent Thal, Roger Stöckli

Unterwegs mit dem Wisent-Ranger

Die mehrwöchige Eingewöhnungsphase dient in erster Linie dazu, dass sich die Tiere an die Juralandschaft gewöhnen. Aus diesem Grund wurde die Ankunft der Tiere im Jura nicht öffentlich durchgeführt. Ab November, sobald sich die Tiere im Gelände der ersten Phase aufhalten, werden Führungen für Gruppen angeboten. Geleitet werden diese vorwiegend vom Wisent-Ranger Benjamin Brunner. Erkundet man das Gebiet auf eigene Faust, dürfen die Wege nicht verlassen werden und am Gehegeeingang werden gewisse Verhaltensregeln instruiert, die eingehalten werden müssen. Durch die Grösse des Gebietes, sind die Tiere aber nicht unbedingt leicht auffindbar. Das geplante Schaugehege in der letzten Projektphase dient deshalb auch als Beobachtungsmöglichkeit der eindrucksvollen Tiere.

Ökosysteme profitieren vom Wisent

Als sogenannte Megaherbivore sind Wisente von grosser Bedeutung für Ökosysteme. Ihr enormer Nahrungsbedarf (siehe Box) hat einen grossen Einfluss auf die Vegetation und Natur. Sie halten Wiesen von dichtem Bewuchs frei und sorgen in Wäldern für Lichtungen und Sonneneinstrahlung bis zum Boden. Von der so geschaffenen Strukturvielfalt und den unterschiedlichen Lebensräumen profitiert die biologische Vielfalt, darunter auch seltene und gefährdete Arten.

Wisent-Kurzportrait:

Wisente gehören zur Gruppe der europäischen Wildrindern und sind damit Wiederkäuer. Wisent-Kühe wiegen zwischen 300 bis 500 Kilogramm, die Stiere zwischen 500 Kilogramm und einer Tonne. Erwachsene Tiere mit diesem Gewicht benötigen deshalb auch eine Menge Nahrung. An einem Tag brauchen sie ungefähr 30 bis 60 Kilogramm Futter. Wisente ernähren sich ausschliesslich vegetarisch. Sie mögen Grass und Kräuter von Wiesen sowie Laub, Wurzeln junge Triebe und Baumrinde aus dem Wald. Wisente Leben in Herden von acht bis 20 Kühen mit ihren Kälbern und Jungtieren. Stiere leben meist einzeln oder in männlichen Gruppen von bis zu sieben Tieren.

Schon alleine die Anwesenheit von Wisenten führt zu vielfältigen, positiven Auswirkungen: Über Fell und Kot verteilen sie Samen, ihr Dung ist wertvolle Nahrung für Insekten und Käfer, welche wiederum Nahrungsquelle für Vögel, Fledermäuse und andere Waldtiere sind. Beim Sandbaden kreieren sie durch ihr hohes Gewicht Bodenkuhlen, die Habitate für Pionierpflanzen, Insekten und Eidechsen darstellen.

Deim Kalb sind die Hornansätze bereits erkennbar. Bild: © Wisent Thal Otto Holzgang

Wildtier oder nicht?

Beim Projekt «Wisent Thal» handelt es sich nicht um ein Auswilderungs- oder Wiederansiedlungsprojekt. Die Wisente der Testherde sind deshalb noch keine Wildtiere. Mit einer gut überwachten Testherde soll das Projekt überprüfen, ob freilebende Wisente im Jura überhaupt tragbar wären. Sobald sich die Tiere nach den zehn Jahren Versuchsphase als unproblematisch erweisen, kann alleine der Regierungsrat des Kantons Solothurn beim Bund beantragen, die Tiere in die Freiheit zu entlassen. Erst dann wären die Wisente ausgewildert und somit Wildtiere. Sie würden dadurch vom Eigentum des Vereins Wisent Thal in öffentliches Eigentum übergehen.

Weitere Informationen unter folgenden Links:

Wisent Thal Webseite

SRF Einstein Beitrag 2020

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