Während zwei Wochen habe ich auf einem wilden englischen Biohof gelebt, gefiltertes Regenwasser getrunken, ein Kompost-WC benutzt und viel gejätet. Und dabei habe ich nicht nur die Natur und die Menschen Englands von einer ganz anderen Perspektive kennengelernt, sondern auch viel über die biologische Landwirtschaft, Selbstversorgung und Suffizienz gelernt.
Die Idee: Als Freiwillige biete ich meine Mitarbeit auf einem Bio-Betrieb an und erhalte dafür Verpflegung und Unterkunft. Und lerne dabei über die biologische Landwirtschaft. Das Ganze nennt sich WWOOF und steht für «worldwide opportunities on organic farms». Der Austausch beinhaltet kein Geld. Dies ermöglicht es den Freiwilligen, auf eine ganz andere Weise in den Ferienort einzutauchen. Gleichzeitig ermöglicht die Freiwilligenarbeit den meist kleinen Familienbetrieben, wie diesem hier im Südwesten Englands, die saisonale Arbeit zu bewältigen. Die langen Tage sind gefüllt von der gemeinsamen Arbeit, neuen Bekanntschaften, leckerem Essen – und der Philosophie der biologischen Landwirtschaft. Oft wird beim «woofing» zwischen vier bis sechs Stunden gearbeitet. Hier auf dem Hof von Alan, Beryl und Manda arbeiten wir jeweils von 9 Uhr bis 12.30 Uhr. Die Nachmittage stehen mir frei für Ausflüge und das Erkunden der spektakulären Küstenlandschaft Cornwalls.
Eine wilde Pflanzengemeinschaft
Bei meiner Ankunft auf dem Hof bin ich überrascht: es sieht überhaupt nicht wie ein Bauernhof aus, mir scheint es eher das englische Äquivalent eines Dschungels zu sein. Bäume, Sträucher und Kräuter wachsen wild durcheinander, es gibt weder gerade Wege noch klar getrennte Gemüsebeete. Der bunte Garten voller Beeren, Früchte und Insekten mutet wie ein kleines Paradies an.


Als Alan hier vor 30 Jahren ankam und das Land kaufte, war das hier eine typische Weidenlandschaft, mit einigen Schwarz- und Weissdornen, einer Stechpalme und einer Eiche. Dann hat Alan angefangen Bäume zu pflanzen – und nun ist es schwer vorstellbar, das dies einmal Weideland gewesen sein soll. Was hinter dem nun wild wuchernden Chaos steckt, ist das Prinzip der Permakultur. In der Permakultur werden Pflanzengemeinschafften gezielt so geschaffen, dass die Pflanzen sich gegenseitig unterstützen. Es ist also kein Zufall, dass der Hof mich an einen Dschungel erinnert. Um eine vielschichtige Struktur zu schaffen und die Natur nachzuahmen, werden die Pflanzen eng neben- und untereinander angepflanzt. Es ist wie ein Wald in einem Garten – oder ein Garten im Wald.
Ein erstes Beispiel für eine solche Pflanzengemeinschaft erklärt mir Manda auch gleich am ersten Tag. Unter den Obstbäumen wächst Echter Beinwell, der mit seinen tiefen Wurzeln Nährstoffe aus der Erde zieht, die der Apfelbaum alleine nicht erreichen könnte. Ausserdem bedeckt der Echte Beinwell den Boden und bietet so Schutz vor Austrocknung.

Schweine statt Maschinen
Meistens beginnen wir den Tag damit, von den über 100 Apfelbäumen, die auf dem Gelände verteilt sind – davon 60 verschiedene Apfelsorten – die heruntergefallenen Äpfel einzusammeln und sie an die beiden «steady woofers» zu füttern. Das sind die beiden Schweine Aristoteles und Frau Pankhurst, deren Aufgabe es ist, im Boden zu wühlen und zu graben – das machen sie liebend gerne. Dadurch halten sie Adlerfarn und Brombeere nieder, pflügen den Boden, verbessern die Wasserretention und fügen der Erde Luft, Wasser und Nährstoffe hinzu. Wenn ihr gesamtes eingezäuntes Gebiet nur noch aus brauner, umgegrabener Erde besteht, werden die beiden gezügelt und können an einem neuen, von Farnen überwucherten Gebiet wieder nach aller Herzenslust mit Fressen und Wühlen beginnen. Und wir pflanzen frische Pflanzengemeinschaften in den umgewühlten Boden.

Auch für uns menschliche Woofer ist die Arbeit körperlich und die Bekämpfung von Unkraut und invasiven Neophyten macht einen Grossteil der Arbeit aus. Das heisst: jäten, jäten, jäten. Insbesondere das Drüsige Springkraut und der Japanische Staudenknöterich sind hier weit verbreitet, und diese gilt es loszuwerden. Das Drüsige Springkraut, hier unter dem schönen Namen Himalayan Balsam bekannt, ist eine invasive Art, die in einer einzigen Saison bis zu 2.5 Meter hoch werden kann. Auch der Japanische Staudenknöterich ist invasiv und die Pflanzen verbreiten sich sehr schnell. Deshalb ist es leider gar nicht einfach, sie loszuwerden.
Für Natur und Mensch
Mit der Zeit gewöhne ich mich an die physische Arbeit und auch an das wechselhafte Sommerwetter in England. Meistens fahre ich nachmittags mit dem Fahrrad an die Küste zum Surfen oder um die Gegend zu erkunden. Die malerischen Städtchen, schroffen Felsenküsten und das keltische Meer verzaubern mich, Cornwall scheint ein kleines Paradies zu sein.
Aber der Schein trügt: «Cornwall ist eines der ärmsten Gebiete Grossbritanniens, das durchschnittliche Einkommen liegt bei weniger als 75 Prozent des EU-Durchschnitts. Viele Menschen können sich gesunde Ernährung nicht leisten. Deshalb wurde in einem kleinen Dorf in der Nähe eine Gassenküche ins Leben gerufen», erzählt mir Manda, während wir die Hühner füttern. Jeden Samstag öffnet sie ihre Türen für diejenigen, die nicht ganz über die Runden kommen. Hier auf dem Biohof hat Manda ein Gemüsebeet extra für die Gassenküche angelegt – sie bringt jeweils am Samstag frisches Gemüse und Früchte mit ins Dorf. Ausserdem arbeitet sie an zahlreichen anderen Projekten: Dienstagnachmittags beispielsweise kommen Menschen auf Besuch, die schwierige Zeiten durchleben. Die Arbeit mit den Händen draussen tut nicht nur mir gut – sie kann auch bei Depressionen helfen.

Selbstversorgung mit Gemüse, Regenwasser und Solarenergie
Langsam beginne ich die Idee der Permakultur immer besser zu verstehen. Ohne externen Input von Wasser, Nährstoffen und Energie Lebensmöglichkeiten für Menschen und Tiere zu schaffen – das gehört zur Philosophie. Deshalb gibt es auf diesem kleinen Familienhof nicht nur verschiedene Früchte, Gemüse und Pflanzengesellschaften, die Nährstoffe auch wieder in den Boden zurückbringen, sondern auch Solarpaneels, Regenwassertanks und ein Kompost-WC. Und das Haus, in dem die Familie lebt, haben sie mit eigenen Händen gebaut – hauptsächlich aus recycelten Materialien. Manda erzählt mir, dass ihre Familie durchschnittlich eine Kilowattstunde Strom pro Tag verbraucht, also etwa 365 kWh pro Jahr. Der durchschnittliche Stromverbrauch in der Schweiz liegt zwischen 4’200 und 5’200 kWh pro Jahr für einen Haushalt mit gleich vielen Personen.

Suffizienz: weniger Verbrauch, mehr Zufriedenheit?
Wenig funktioniert hier so, wie ich es mir gewohnt bin. Auch fliessendes Trinkwasser vom Hahnen gibt es nicht. Vier grosse Tonnen à je 1’000 Liter Fassungsvermögen sammeln das Regenwasser. Dieses wird dann vor dem Trinken gefiltert. Eine warme Dusche ist zwar möglich, man muss aber einen grossen Topf auf den Ofen stellen und so erhitzen. Für die Toilette braucht es kein Wasser – Stichwort Kompost-WC. Der Strom kommt von den Solarpaneels auf dem Dach. Dann funktioniert auch das WLAN, und ab und zu kann man einen Film schauen. Wenn die Sonne aber ein paar Tage lang nicht scheint (was hier schon ab und zu vorkommt), dann gibt es keinen Strom und auch kein Internet. Stattdessen spielen wir gemeinsam vor dem Kaminfeuer eine Runde Scrabble oder verlieren uns in spannenden Diskussionen.
Die Tage auf der Farm sind ziemlich ruhig und die Zeit verfliegt rasch. Obwohl der Hof ziemlich versteckt liegt und man selten Handyempfang oder Internet hat, fühle ich mich nicht abgeschottet oder isoliert. Nicht nur der Austausch mit der Familie ist wunderbar erfrischend und inspirierend, auch die Zusammenarbeit mit Woofern aus ganz Europa ist anregend.
Was ich von diesen zwei Wochen mitnehme
Wenn ich morgens in der kleinen Holzhütte aufwache, höre ich nur Vogelgezwitscher und den Wind. Die Vorderfront ist aus Glas, sodass es sich anfühlt, als wäre ich draussen. Alles braucht seine Zeit: Abends ein Feuer machen um während der Nacht warm zu bleiben, das gesammelte Regenwasser filtern. Ab und zu mit dem Fahrrad an die Küste fahren um Lebensmittel einzukaufen. Aber mit der Zeit steigt irgendwie auch die Wertschätzung. Beim Abschied weiss ich schon, dieses Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit und die Verbundenheit mit der Natur wird mir in Zürich fehlen. Ich nehme sehr viel mit von diesen Wochen in England; Begegnungen mit Menschen, Inspiration zum nachhaltig Leben, die Idee der Permakultur, wunderbare Erinnerungen. Vor allem aber bleibt eine Frage: Kann ich auch so leben?

Natürlich ist mir klar, dass dieses kleine Paradies nicht so paradiesisch ist, wie es für mich jetzt scheint. Die Arbeit auf der Permakultur ist beschwerlich, arbeitsintensiv und vom Verkauf der Ernte allein kann eine Familie nicht leben. Der Verzicht auf fliessendes Wasser, Internet und eine heisse Dusche mag für ein paar Wochen aufregend sein, aber danach? Und das alles dann auch noch im Winter! Gleichzeitig macht uns ja das Leben im Überfluss und in der Bequemlichkeit auch nicht unbedingt glücklicher. Selten habe ich mich so verbunden mit der Natur und innerlich zufrieden gefühlt, wie während den zwei Wochen auf diesem Hof. Manchmal stimmt es wirklich: weniger ist mehr. Ich möchte versuchen, mehr so zu leben.
Mit diesen Gedanken im Kopf geht es für mich jetzt wieder zurück in die Schweiz. Die Reise nach Cornwall habe ich mit dem Zug, Fahrrad und Schiff zurückgelegt – und mit meinem Surfbrett. Und auf dem gleichen Weg geht’s jetzt auch wieder zurück.
