StartHintergrundReportageMülltauchen – ein Protest gegen die Lebensmittelverschwendung

Mülltauchen – ein Protest gegen die Lebensmittelverschwendung

Aus Überzeugung, dass Nahrung nicht in die Mülltonne gehört, habe ich jahrelang gecontainert. Daraus sind nicht nur zahlreiche kostenlose Mahlzeiten mit Freunden und eigene Tomaten auf dem Balkon gediehen – ich habe auch einen Einblick in das Ausmass unserer Lebensmittelverschwendung erhalten. Geblieben ist ein schmerzhaftes Unverständnis für die Regulierungen, die diese Verschwendung fördern.

Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Wagnis zum Containern. Schwarz gekleidet, mit dunkeln Wollmützen über den Kopf gezogen, bin ich zusammen mit meiner besten Freundin nach zehn Uhr abends nochmals zum Supermarkt gefahren – aber zum ersten Mal interessierte uns jetzt nicht, was es im Laden drin zu kaufen gibt, sondern was sich in den Mülltonnen dahinter befindet. Ich war nervös und unsicher, denn zugegebenermassen hat es ja schon etwas Erbärmliches an sich, im Müll rumzuwühlen. Ausserdem bewegten sich unsere nächtlichen Ausflüge in einer juristischen Grauzone. Zugleich verspürte ich jedoch auch eine positive Aufregung, da ich so meinen Lebensstil mit meinen Überzeugungen mehr in Einklang bringen konnte. Lebensmitteilverschwendung in einer Welt, wo noch immer über 800 Millionen Menschen an chronischem Hunger leiden, macht mich extrem wütend und frustriert – dem muss ich entgegenwirken!

Die Ausbeute unserer nächtlichen Ausflüge war beachtlich. Oft so beachtlich, dass wir nur einen kleinen Teil mitnehmen und es uns leisten konnten, wirklich wählerisch zu sein. In den Containern fanden wir eine Fülle von Lebensmitteln: meist dabei waren Bananen, Äpfel, Orangen, Brokkoli, Peperoni, Salat – generell verschiedenste Früchte und Gemüse – Brot, manchmal auch Fertiggerichte und Desserts, mal ein Sixpack Bier, einmal eine riesige Kartonbox Waschmittelpulver, bei der eine Ecke angerissen war, und einmal unzählige kleine Tomatenpflänzchen, die wir möglichst sorgsam auf dem Fahrrad nach Hause transportiert haben. Je nach Saison gab es auch zahlreiche Spargeln, Rhabarber und Beeren (meine Lieblingsausbeute!). Mit der Zeit haben wir das Mülltauchen ziemlich gut in den Griff gekriegt: Am meisten lohnt sich ein Ausflug jeweils Samstagabends, denn da die Läden sonntags geschlossen bleiben, wird dann am meisten weggeworfen. Auch vor Feiertagen lohnt sich ein nächtlicher Besuch sehr. Nach einer Weile ist unsere Nervosität abgeklungen und wir haben uns für die nächtlichen Ausflüge nicht mehr extra dunkel angezogen. Das schmerzhafte Unverständnis und eine leichte Verzweiflung beim Anblick all der weggeworfenen Lebensmittel, die zum Grossteil noch sorglos konsumiert werden könnten, sind jedoch nie abgeklungen – im Gegenteil.

Eine rationale Erklärung für die Lebensmittelverschwendung?

Zu den Lebensregeln des 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso gehört: «Lerne die Regeln, damit du sie richtig brechen kannst.» Diesen Ratschlag habe ich mir zu Herzen genommen und mir daher den Kopf über die rechtlichen Regulierungen des Mülltauchens zerbrochen. Weshalb ist es in unserer Gesellschaft nicht verboten, essbare Lebensmittel wegzuwerfen, und stattdessen illegal, diese noch zu nutzen? Die Welt steht doch Kopf! Ich verstehe, dass Lebensmittel, die das Verbrauchsdatum überschritten haben, nicht mehr verkauft werden können, weil die Supermärkte Lebensmittelsicherheit garantieren müssen. Aber was ist beispielsweise mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum, müssen wir das wirklich auch schon wegwerfen? Und wäre es nicht irgendwie menschlicher, die leicht angebräunten Bananen vor Ladenschluss zu verschenken, statt sie einfach wegzuwerfen?

Dumpster Diving: Nicht illegal, aber…

Anders als in den USA und in Deutschland ist in der Schweiz Mülltauchen nicht offiziell verboten, sofern die Container frei zugänglich und nicht abgeschlossen sind. Es ist jedoch oft eine juristische Grauzone, denn die meisten Container sind nicht frei zugänglich und wer über einen Zaun oder ein Tor klettert begeht Hausfriedensbruch. Es stellt sich auch die Frage: Stehlen wir hier Lebensmittel? Wem gehören denn die Lebensmittel in der Mülltonne? Dem Supermarkt? Der Kehrichtverbrennungsanlage?

Zum Glück sind wir bei unseren nächtlichen Rettungsaktionen nie der Polizei begegnet und mussten uns somit diesen Fragen nicht stellen. Wir haben jedoch immer mal wieder die Angestellten des Supermarktes bei den Containern angetroffen, die uns einmal sogar die Lebensmittel in die Hand gedrückt haben, statt sie in die Container zu werfen – und dies, obwohl es sie den Job hätte kosten können. Denn es ist den Angestellten nicht erlaubt, die Lebensmittel zu verschenken. Natürlich haben jedoch nicht alle Angestellten so reagiert. Oft wurden verschiedenste Produkte über die Container so ausgeleert, dass es uns unmöglich war, die Lebensmittel noch zu retten.

Auch haben wir hin und wieder andere «Lebensmittelretter» aus der Dumpster-Szene angetroffen. Einer davon hat uns sogar erzählt, dass er einen speziellen Schlüssel besitzt, mit dem er die abgeschlossenen Container öffnen kann. Das ist dann nicht mehr juristische Grauzone, sondern illegal.

Alternativen zum Container

Natürlich versuchen auch die Lebensmittelläden ihr Bestes, um die Lebensmittelverschwendung möglich zu minimieren. Es lohnt sich ja für die Unternehmen finanziell nicht, ihre Produkte einfach wegzuwerfen. Um dem entgegenzuwirken, haben die Supermärkte verschiedenste Konzepte entwickelt. Läuft das Produkt bald ab, wird der Preis heruntergesetzt. Im Ünique-Sortiment von Coop wird unförmiges Obst und Gemüse günstig verkauft. Und viele Supermärkte spenden noch zum Verzehr geeignete Lebensmittel an Tischlein deck dich, Caritas-Märkte oder an die Schweizer Tafel. Die ungeniessbaren Lebensmittel werden in die Biogasanlage abgegeben, damit zumindest noch Energie daraus gewonnen werden kann.

Das hört sich ja auf Papier alles ganz gut an. Aber es ist halt nicht genug. Mir haben sich die Ausmasse der Lebensmittelverschwendung stark eingeprägt. Ich habe mich schliesslich zu einem Grossteil davon ernähren können und bin dabei gesund geblieben. Ich hoffe, wir können Nahrung wieder als etwas Wertvolleres sehen und weniger verschwenderisch damit umgehen. Wie wäre es beispielsweise, im Coop auch mal die leicht angebräunte Banane zu kaufen? Ich habe an zu vielen Tagen zu viele Bananen in den Mülltonnen gesehen und die Tatsache, dass diese mit dem Containerschiff oder Flugzeug von Südamerika in die Schweiz transportiert werden, nur um dann bei uns in der Mülltonne zu landen, scheint mir weiterhin inakzeptabel!

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