StartNewsPolitikHat die Schweiz künftig den grössten Pestizidcocktail Europas?

Hat die Schweiz künftig den grössten Pestizidcocktail Europas?

Die geplante Revision des Landwirtschaftsgesetzes unter dem Titel «Modernen Pflanzenschutz in der Schweiz ermöglichen» sorgt für heftige Kontroversen. Mit der vorgeschlagenen Änderung könnten Pestizide aus 20 EU-Ländern künftig vereinfacht auch in der Schweiz genehmigt werden. Wasser- und Umweltfachleute warnen vor einer massiven Gefährdung der Gesundheit, Biodiversität und Gewässer.

Unter dem vielversprechenden Titel «Modernen Pflanzenschutz in der Schweiz ermöglichen» ist seit September eine Revision des Landwirtschaftsgesetzes in der Vernehmlassung. Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates möchte mit der Revision die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln in der Schweiz beschleunigen. Sie sieht vor, dass Pflanzenschutzmittel, die in einem EU-Nachbarland (Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien), in den Niederlanden oder in Belgien zugelassen sind, in der Schweiz vereinfacht zugelassen werden. Nur in Bereichen, die in der Schweiz besonders geschützt sind — wie der Gewässerschutz — sollen die Schweizer Behörden die Risiken für Mensch, Tier und Umwelt beurteilen.

Die Revision entspricht nicht den Versprechungen die im Vorfeld der Abstimmungen über die Pestizid- und Trinkwasserinitiative gemacht wurden. Das Parlament und der Bundesrat sicherten zu, im Bereich der Pestizide einen ambitionierten Absenkpfad festzuschreiben. Bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln sollten zudem die Anliegen der Biodiversität und des Gesundheitsschutzes stärker berücksichtigt werden. Jedoch geht die Revision in die entgegengesetzte Richtung. Wasserfachleute reagieren besorgt auf die geplante Revision und befürchten, dass hunderte Pestizide neu in Schweizer Gewässer gelangen würden.

Sind zukünftig Pestizide aus halb Europa zugelassen?

Die Revision wird dadurch begründet, dass in der Schweiz laufend in Anlehnung an die Entscheidungen der EU Pflanzenschutzmittel vom Markt genommen werden, jedoch nur sehr schleppend neue zugelassen werden. In der EU sind die Länder in drei Zonen eingeordnet: Süden, Mitte und Norden. Benötigen Herstellerfirmen eine Zulassung in mehreren EU-Ländern, können sie pro Zone einen Staat auswählen, der das Mittel für die gesamte Zone auf seine Risiken für Umwelt und Gesundheit prüft. Die anderen Länder der Zone müssen das Mittel dann ebenfalls zulassen, wenn keine landesspezifischen Gründe dagegen sprechen.

Weil in den Nachbarsländern diese zonalen Bewilligungen aus ganz Süd- und Mitteleuropa gelten, könnten nach der Revision Pflanzenschutzmittel aus 20 EU-Ländern in der Schweiz verkauft werden. Damit droht, dass in der Schweiz zukünftig europaweit am meisten Pestizide zugelassen sind — auch die hochproblematischen. Da die Mittel in der Regel in dem Land mit den geringsten Auflagen angemeldet werden, würde so der Umwelt- und Gesundheitsstandard der Schweiz kontinuierlich nach unten gesenkt werden.

In der Schweiz könnten zukünftig alle Pflanzenschutzmittel aus den Zonen Süden und Mitte zugelassen werden. Bild: © 4aqua.

Diverse Organisationen fordern Ablehnung der Revision

Alleine in den Nachbarländern sind zurzeit rund 50 problematische Wirkstoffe und hunderte darauf basierende Pflanzenschutzmittel zugelassen. Welche weiteren durch die Niederlande, Belgien und die zonalen Zulassungen dazu kommen ist unbekannt. Die Pflanzenschutzmittel, die intensiv und lange Wirkung zeigen, töten am meisten Amphibien, Bestäuberinsekten und Wasserorganismen. Da sich diese Pflanzenschutzmittel aber am besten verkaufen, steht zu befürchten, dass die Pestizidhändler vor allem die schädlichsten Produkte aus den EU-Ländern in der Schweiz zur Zulassung anmelden.

Die Revision des Landwirtschaftsgesetzes hat nichts mit modernem Pflanzenschutz zu tun und wäre ein grosser Rückschritt unter anderem für den Gewässerschutz. Der Verbund der Wasserfachleute 4aqua schreibt, dass bereits jetzt viele Bäche und kleine Stillgewässer biologisch praktisch tot sind. Die Messprogramme des BAFU, der EAWAG und weiteren Stellen zeigen seit Jahren, dass die Oberflächengewässer, das Grundwasser und Trinkwasser in der Schweiz massiv mit Pestiziden belastet sind. Die Revision gefährdet die Gesundheit, die Qualität der Lebensmittel, des Trinkwassers und die Biodiversität. Viele Gesundheits-, Umwelt- und Trinkwasserverbände lehnen deshalb diese Revision entschieden ab. Viel wichtiger wäre eine gezielte Auswahl von Low-Risk Pflanzenschutzmittel und die Förderung einer Landwirtschaft, die resilient gegenüber Schadorganismen ist. 

Weitere Informationen:
Laufende Vernehmlassung «Modernen Pflanzenschutz in der Schweiz ermöglichen»
Vernehmlassungsantwort von 4aqua
Medienmitteilung der Gesundheits-, Umwelt- und Trinkwasserverbände

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