Berggipfel sind spärlich bewachsen – der Klimawandel ändert das: Durch die Erwärmung erklimmen immer mehr Pflänzchen die kahlen Gipfel, darunter auch Talbewohner und gebietsfremde Pflanzen. Dabei gilt: Je stärker die Klimaerwärmung, desto mehr steigt die Zahl der Pflanzenarten auf Berggipfeln. Die angestammten Arten kommen so in Bedrängnis.
Geschrieben von Sonja Wipf und Christian Rixen, WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Davos. Der Originalartikel wurde in der botanischen Zeitschrift „info flora plus“ (Ausgabe Nr. 7 2018) von Info Flora veröffentlicht.
Wer eine botanische Bergtour macht, stellt schnell fest: Je höher über die Waldgrenze man wandert, desto weniger Pflanzenarten trifft man an. Schon unter 3000 Metern hört die geschlossene Vegetationsdecke auf, und in noch grösserer Höhe sieht man auf den ersten Blick gar keine Gefässpflanzen mehr. Die Höchstverbreitung vieler Pflanzenarten ist durch die harsche Umwelt begrenzt – mit zunehmender Höhe leiden sie unter zu kalten oder zu kurzen Sommern. Dass sich mit der Klimaerwärmung der letzten Jahrzehnte viele Arten in grössere Höhen ausbreiten und sich die alpine Flora rasch verändert, ist also zu erwarten.
Um diese langfristigen Veränderungen festzustellen, eignen sich Berggipfel besonders gut. Einerseits existieren zu diesen viele historische Pflanzenlisten, in den Alpen von so namhaften Botanikern wie Josias Braun-Blanquet, Eduard Rübel oder Wilhelm Schibler. Andererseits dienen Gipfel als «Dauerbeobachtungsflächen», da der alte Aufnahmeort gut lokalisiert werden kann. In einer Studie haben wir die Veränderungen der Flora auf über hundert Berggipfeln untersucht.
100 Meter weiter oben und 10 Arten dazu
Tatsächlich finden sich die angetroffenen Arten im Schnitt in fast 100 Meter grösserer Höhe als ein Jahrhundert zuvor. Auf 90 Prozent dieser Gipfel sind die Artenzahlen stark angestiegen – im Durchschnitt sind es zehn zusätzliche Arten. Mit den Ergebnissen dieser Gipfeluntersuchungen konnten die Forschenden auch erstmals den direkten Zusammenhang zwischen steigenden Temperaturen und zunehmender Artenzahl beweisen. Je stärker die Erwärmung in der Zeitspanne zwischen zwei Vegetationsaufnahmen auf einem Gipfel war, desto mehr hatte auch die Zahl der Pflanzenarten zugenommen. Eine derartige Beschleunigung langsamer Prozesse konnte bisher nur bei der Gletscherschmelze gemessen werden.
Ein eindrückliches Beispiel dieser Veränderungen ist der Piz Linard im Engadin (3410 m, Tabelle). Schon bei der offiziellen Erstbesteigung hat ETH-Professor Oswald Heer die angetroffenen Arten notiert, und in der Zwischenzeit wurde die Gipfelflora des Piz Linard acht weitere Male aufgenommen. Im August 1835 traf Heer in den obersten 30 Höhenmetern lediglich ein Individuum des Alpenmannsschilds (Androsace alpina), aber keine anderen Pflanzen an. In den folgenden hundert Jahren stieg die Artenvielfalt des Piz Linard auf zehn Arten und blieb dann konstant bis in die 1990er-Jahre.
«Allerweltsarten» breiten sich aus
Parallel mit der starken Erwärmung kamen in den letzten 20 Jahren aber nicht weniger als sechs neue Arten hinzu. Sind das nicht gute Neuigkeiten für alpine Pflanzen? Nur bedingt – gerade in weniger extremen Lagen bis um 3000 Meter Höhe beruht die zunehmende Vielfalt auf einwandernden «Allerweltsarten» wie Alpenrispengras oder Löwenzahn (Poa alpina, Taraxacum alpinum aggr.), welche die Besonderheit der Flora schmälern.
Platzmangel zum Gipfel hin
Darüber hinaus nimmt wie bei einer Pyramide die Landfläche mit zunehmender Höhe ab – wenn gleichzeitig zur oberen auch die untere Verbreitungsgrenze einer Art steigt, schrumpft also ihr absolutes Verbreitungsgebiet. Die Zahl der Orte, wo Bodeneigenschaften, Verfügbarkeit von Wasser und Nährstoffen sowie Klimabedingungen wie Temperaturen und schneefreie Zeit ein Pflanzenwachstum zulassen, nimmt mit der Höhe ebenfalls ab. Mit jeder neuen Art, die einen Gipfel besiedelt, erwächst den angestammten Arten eine mögliche Konkurrentin um diese beschränkten Ressourcen.
Kleine hochalpine Spezialisten besonders unter Druck
Die schlechtesten Karten in diesem Konkurrenzkampf haben jene kleinwüchsigen hochalpinen Pflanzenarten, die auf relativ stabilem, organischem Boden wachsen. Einerseits werden die entsprechenden Kleinst-Lebensräume mit zunehmender Höhe seltener. Andererseits keimen neu einwandernde Arten aus subalpinen Gebieten genau auf diesen Standorten. Diese «neuen» Arten aus Vegetationstypen mit höherem Konkurrenzdruck können hochalpine Arten verdrängen. Eine Art, die wahrscheinlich aus diesem Grund schon einige Gipfelstandorte verloren hat, ist der Bayrische Enzian (Gentiana bavarica).
Auch tiefe Fundorte melden!
Können Arten hingegen auf unstabilem Felsschutt wachsen, sind sie geringerer Konkurrenz ausgesetzt und geeignete Lebensräume werden mit zunehmender Höhe häufiger. Die Bodenbildung auf Schutthalden ist so langsam, dass sie sogar an tiefen Standorten alpinen Arten Lebensraum bieten. Allerdings ist die Datenlage an der unteren Verbreitungsgrenze von alpinen Arten dürftig. Damit wir ihre Gefährdung in Zukunft abschätzen können, sind wir deshalb dankbar, wenn Sie auf Ihren Bergtouren nicht nur spektakulär hohe, sondern gerade auch tiefe Fundorte von Alpenpflanzen an Info Flora melden.
Mehr Informationen finden Sie in der dazugehörigen Studie, erschienen im Wissenschaftsmagazin Nature.
Wir haben in den letzten 10 Jahren jedes Jahr immer wieder die schöne Alpenflora von Vals durchforscht und dabei die geflügelten Blumen die Schmetterlinge entdeckt.