StartNewsGesellschaftNeun Gründe warum Menschen die Biodiversität in Süssgewässern zwingend brauchen

Neun Gründe warum Menschen die Biodiversität in Süssgewässern zwingend brauchen

Ein internationales Forschungsteam hat herausgearbeitet, welche Ökosystemleistungen von der Biodiversität im Süsswasser abhängen. Auf diese sind wir Menschen gleich auf mehreren Ebenen unausweichlich angewiesen.

Tier- und Pflanzenarten im Süsswasser sind besonders gefährdet: Populationen von Wirbeltierarten, die in Flüssen, Seen und Feuchtgebieten leben, schrumpfen beispielsweise doppelt so schnell wie solche im Meer und an Land. Und laut der 2022 aktualisierten Roten Liste der Arten der Weltnaturschutzorganisation (IUCN) ist ein Drittel der Süsswasser-Tierarten vom Aussterben bedroht: rund 59 Prozent der Schildkröten, 20 Prozent der Fische, 37 Prozent der Säugetiere und 30 Prozent der Amphibien. Das Artensterben steht auch im Zusammenhang mit dem Schwindenden von Feuchtgebieten als Lebensräume: Feuchtgebiete sind weltweit zwischen 1970 und 2015 um ein Drittel geschrumpft; ein Rückgang, der dreimal so hoch ist wie der Verlust an Waldflächen. Nur noch ein Drittel aller grossen Flüsse kann ungehindert, also ohne Barrieren wie Dämme oder andere Hindernisse, ins Meer fliessen.

Der Mensch ist auf biologisch vielfältige Gewässer angewiesen

«Es gibt einen ethischen Anspruch, die Natur zu schützen, aber gleichzeitig sollten wir auch verstehen, dass wir auf wichtige Funktionen der Artenvielfalt im Wasser zwingend angewiesen sind und dass wir den rapiden Artenverlust dringend stoppen müssen», sagt die Studienleiterin Sonja Jähnig. Sie hat mit einem grossen internationalen Team aus Forschenden und Vertreter*innen aus dem Naturschutz in der Fachzeitschrift WIREs Water die wichtigsten Funktionen und Leistungen zusammengestellt, die von der biologischen Vielfalt in Binnengewässern abhängig sind. Dem Rahmenwerk des Weltbiodiversitätsrats IPBES folgend, unterscheiden die Autor*innen materielle, nicht materielle und regulierende Ökosystemleistungen der Biodiversität. Jeder Gruppe ordnen sie jeweils drei wichtige Funktionen oder Leistungen unter und nennen wissenschaftlich fundierte Beispiele. 

9 wichtige Ökosystemleistungen von Gewässern, auf die wir nicht verzichten können

1) Nahrung: Obwohl wir bei Nahrung aus dem Wasser zuerst an Fische denken, ist die Bandbreite tatsächlich gross und reicht von Tieren über Pflanzen bis hin zu Mikroorganismen. 

2) Andere tierische und pflanzliche Produkte: Aus Rohstoffen aus dem Süsswasser werden Gebrauchs- und Ziergegenstände hergestellt, etwa Kleidung aus Fischleder, Nagelfeilen aus Fischschuppen und Scheren aus Piranhazähnen. Wasserpflanzen dienen als Baumaterial und Werkstoff für Möbel.

3) Gesundheit und genetische Ressourcen: Algen, Wasserpflanzen und tierische Produkte – von Kollagenen aus Fischen bis hin zu Sekretionsprodukten von Froschhaut – finden in Medizin und Pharmakologie Anwendung.

4) Freizeitwert Erholung: Freizeitaktivitäten, die durch die biologische Vielfalt im Süsswasser ermöglicht werden, gelten als kulturelle Dienstleistungen. Schwimmen und Bootfahren finden vor allem dort statt, wo die Wasserqualität durch sensorische Erfahrungen wie Geruch und Sicht als gut eingeschätzt wird. Die Wasserqualität steht in direktem Zusammenhang mit den Lebewesen im Gewässer, die beispielsweise Algenblüten verhindern können. 

5) Bedeutung für Kultur, Religion und Spiritualität: Fast alle Kulturen an grossen Seen oder Flüssen haben Rituale und Traditionen, die mit den dortigen Lebewesen verknüpft sind.

6) Möglichkeiten für Bildung und technischen Fortschritt: Von formalen Lehrplänen in Grundschulen bis hin zu gezielten ausserschulischen Aktivitäten für Jugendliche – all dies trägt dazu bei, Verbindungen zu schaffen und ein lebenslanges Engagement für den Schutz von Süsswasser und den verantwortungsvollen Umgang damit zu fördern. 

7) Klimaregulation: Süsswasserökosysteme sind von entscheidender Bedeutung für die Speicherung und Bindung von Kohlenstoff und Methan. 

8) Wasserhaushalt in der Landschaft: Ufer- und Wasserpflanzen verringern die Wassergeschwindigkeit, verbessern die Uferstabilität, halten Sedimente zurück und filtern Nähr- und Schadstoffe. 

9) Selbstreinigung des Wassers und Stoffkreisläufe: Milliarden von Mikroorganismen, Pflanzen, Algen und Tieren reinigen das Wasser, indem sie überschüssige Nährstoffe, Krankheitserreger und Schadstoffe filtern. Das ist u.a. für die Trinkwassergewinnung von entscheidender Bedeutung.

«Süssgewässer wurden bislang vor allem als wichtige Ressource verwaltet und nicht als DER besondere und empfindliche Lebensraum für eine aussergewöhnliche Vielzahl von Organismen, die all diese Leistungen erbringen. Politik und Behörden können den Biodiversitätsschutz stärker ins Gewässermanagement integrieren», resümiert die Erstautorin der Studie Abigail Lynch.

Dank Biodiversität sind Gewässer nachhaltig bewirtschaftbar

So gehen die Autor*innen in ihrer Veröffentlichung auch auf die naturbasierten Lösungen ein, die Natur- bzw. Artenschutz und menschlichen Nutzen optimal vereinen: Während technische Strukturen wie Dämme, Kanäle, Deiche oder technische Massnahmen zur Wasseraufbereitung häufig vorherrschen, um wasserbezogene sozio-ökologische Herausforderungen zu lösen, handelt es sich bei naturbasierten Lösungen um Massnahmen, die Ökosysteme und die Biodiversität schützen, nachhaltig bewirtschaften und wiederherstellen und gleichzeitig den menschlichen Anforderungen zugutekommen. «Häufig sind naturbasierte Lösungen entgegen der landläufigen Meinung günstiger und effizienter als technische Lösungen. Beim Hochwasserschutz kann es beispielsweise viel sinnvoller sein, die Rückhaltekapazität von Auen zu nutzen als höhere Dämme zu bauen», stellt Sonja Jähnig fest.

Süsswasserpflanzen stabilisieren Ufer und können Überschwemmungen, Bodenerosion und Wasserverschmutzung erheblich verringern. Sogar Betreiber von Stauanlagen erkennen diesen Wert einer naturbasierten Lösung und halten es für kosteneffizient, eine intakte Ufervegetation in den oberen Einzugsgebieten wiederherzustellen und zu erhalten, um Erosion zu verhindern, die Sedimentfracht in den Stauseen zu verringern, die Kosten für Ausbaggerungen zu senken und die Lebensdauer der Dämme zu verlängern. 

Pflanzenkläranlagen sind eine der am häufigsten verwendeten Alternativen zur Kontrolle der Wasserverschmutzung in Städten durch Regenwasser, Mischwasserüberläufe und Abflüsse aus Kläranlagen. In China wurde das Konzept der «Schwammstädte» in grossem Umfang umgesetzt: Grosse Feuchtgebiete, die einst bebaut worden waren, wurden wiederhergestellt und zusätzliche Feuchtgebiete angelegt, die wie Schwämme funktionieren, Abflüsse aufnehmen und Hochwasserereignisse abschwächen.

Faszinierende Fakten zu den Leistungen der Süsswasserbiodiversität

Nahrung: Fisch ist in Ländern mit Nahrungsmittelknappheit eine extrem wichtige Eiweissquelle, und eine Süsswasserpflanze ernährt die Hälfte der Weltbevölkerung.
Die Datenbank der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) umfasste 2022 allein 2.500 verschiedene Arten von Speisefischen aus dem Süsswasser. Insbesondere für einkommensschwache und von Nahrungsmittelknappheit betroffenen Länder ist die Binnenfischerei eine wichtige Nahrungsquelle. Eine Studie über den sozioökonomischen Wert von Süsswasserarten in der nordafrikanischen Region ergab beispielsweise, dass von den 128 in der Studie erfassten Süsswasserfischarten über die Hälfte eine wirtschaftliche Rolle spielt und als wichtige Nahrungsquelle genutzt wird. Über ein Drittel dieser genutzten Arten sind dort jedoch vom regionalen Aussterben bedroht. 
Im unteren Mekong-Delta werden jährlich 2,3 Millionen Tonnen Fisch und andere Tierarten gefangen. Diese liefern etwa 50 bis 80 Prozent des tierischen Eiweisses für die Ernährung in der Region. Viele der dortigen Fischarten sind Wanderfische, der massive Ausbau der Wasserkraft gefährdet deshalb die Lebensmittelsicherheit im Mekong-Delta – neben anderen menschengemachten Stressoren wie Wasserverschmutzung und Klimawandel.
Die Reispflanze Oryza sativa, die die Hälfte der Weltbevölkerung ernährt, ist übrigens ebenfalls eine Süsswasserart. Während O. sativa in grossem Massstab produziert wird, um Milliarden von Menschen zu ernähren, werden andere Reissorten für die lokale Versorgung angebaut. In China werden Süsswasserpflanzen in grossem Umfang produziert und konsumiert.

Wasserreinigung: Sumpf macht sauber
Feuchtgebiete sind wichtig für die Wasserreinigung. Ein bekanntes Beispiel ist der Nakivubo-Sumpf und das Kyetinda-Feuchtgebiet in der Nähe von Kampala, Uganda, die einen Grossteil der Abwässer der Stadt aufnehmen und filtern, bevor sie in den Viktoriasee gelangen. Der Wert der Abwasserreinigung und des Nährstoffrückhalts des Sumpfes wird auf einen wirtschaftlichen Wert von bis zu 1,75 Millionen US-Dollar pro Jahr geschätzt. Der Verlust dieser Leistung würde zu zahlreichen negativen Folgen führen, wie Fischsterben, giftigen Blaualgenblüten und der Belastung mit menschlichen Fäkalbakterien und Viren. 

Klimaregulierung: Moore als Kohlenstoffsenke
Algen und Wasserpflanzen, insbesondere in Feuchtgebieten, spielen eine wesentliche Rolle bei der Aufnahme und Speicherung von atmosphärischem Kohlenstoff in Form von lebendem Pflanzengewebe und zersetzter Vegetation. Es wird geschätzt, dass Feuchtgebiete und Moore etwa 20-30 Prozent des globalen Kohlenstoffs speichern und somit eine wichtige Rolle im atmosphärischen Kohlenstoffkreislauf spielen. Der Schutz von natürlichen Mooren und Feuchtgebieten ist auch Klimaschutz.

Kultureller Wert: Symboltiere sterben doppelt aus – physisch und gesellschaftlich
Die biologische Vielfalt der Süssgewässer ist die Grundlage für ein breites Spektrum kultureller Dienstleistungen, die religiöse, spirituelle und soziale Erfahrungen umfassen und eine Schlüsselrolle bei der Identitätsfindung der Menschen spielen. Fast alle Kulturen an grossen Seen oder Flüssen haben Rituale und Traditionen, die mit den dortigen Lebewesen verknüpft sind. In der Amazonas-Region sind die Kulturen eng mit ihrem Fluss verwoben und mit den grossen Tieren, wie dem Arapaima oder der Arrauschildkröte, die stark bedroht sind.
In Europa spielten insbesondere Krebse vom Mittelalter an eine wichtige Rolle als Symbol für Wehrhaftigkeit und Wiederauferstehung – letzteres durch seine Fähigkeit sich zu häuten und somit zu erneuern. Krebse zieren daher in vielen Gegenden Wappen und Flaggen. Die heimischen Süsswasserkrebse sind in Europa vom Aussterben bedroht. Wenn diese Tiere aussterben geht mit ihnen auch die kulturelle Erinnerung verloren. Sie sterben doppelt aus, einmal physisch und einmal «gesellschaftlich».

Die Studie finden Sie hier.

1 Kommentar

  1. Die meisten Eisvögel sind abgewandert oder verhungert, weil sie keine Kleinfische mehr wie Grundeln oder nicht-stachelige Groppen in kleinen Fliessgewässer finden. Als ich noch Kind war, gabe es vor 50 Jahren eine kleine seltene Grundel Population im Rotsee, die auf dem klaren Sandboden lebte. Dieses Jahr im Mai nachgeschaut, existieren diese Grundeln nicht mehr und der Sandboden ist komplet mit Phosphoralgen übersäht; überhaupt kein Sand mehr zu sehen. Auch vor 50 Jahren, jedes Jahr war zwischen der Seebrücke bis fast zum Wehr in der Luzerner Reuss das Sommerquartier von Millionen Lunz (Alburnus alburnus), auch Ablette, Laube, Zwiebelfisch oder Laugele genannt. Heute ist kein einziger dieser Fischart mehr vorhanden. Ein kleiner Bestand von Hasel hat das Gebiet um die Seebrücke als Sommerstandort gewäjlt. Diese finden sich ab Mai ein und bleiben bis der See sich wieder abkühlt. Meist verlassen sie das Sommerquartier Seebrücke und wandern zurük in den See in ihr Winterquartier in tieferes Wasser mit stabilen Temperatur. Ich wussste damals, dass in den 80er Jahren, Berufsfischer pro Tonne Fisch, die nicht für Speise gedacht waren und als Nutzlos betrachtet wurden, vom Bund finanziell subventioniert wurden. Meine Vermutung ist die, dass hauptsächlich Berufsfischer am Untergang des Lunz im Vierwaldstättersee und Reuss-Sommerplatz durch Überfischung dieser schuldig sind. Ich hatte damals selbst einen Berufsfischer in Hergiswil NW gesehen, dessen Boot fast überfüllt mit subventioniertem «Abfallfisch», hauptsächlich Lunz und Hasel war. Ob dies heute nocht so ist oder/und wie lange dies subventioniert wurde, weiss ich nicht. Das Aussterben kleiner Fischarten hat noch andere weitreichende Gründe, als Hauptgründe zu nennen sind Besatz von fangfähigen Forellen, die Kleinfischarten wie Grundeln und Groppen buchstäblich weggfressen, Phosphor und Stickstoffeintrag durch Jauche von Kuh- und Schweinedung; lange Zeit vermischt mit menschlichen Fekalien und Abwässer vom Bauernhof. Mittlerweile sollten die meisten Bauernhöfe an irgend einer ARA, bzw. Kläranlage angeschlossen sein. Viele Invertebraten Arten und Kleinfischarten sind nicht «Phoshor-resisten», ihre Eier und Larven veralgen und können ersticken. Die grösste Vielfalt aquatischen Lebens kommt in fast unbelastet-reinen Fliessgewässern mit starkem Submersen und emersen Wasserpflanzenwuchs vor. Alle Vögel, mit Ausnahme grosser Raubvögel, sind auf Insekten in und aus Flüssen, Seen und anderen Feuchtgebieten angewiesen. Vorallem im Frühling ist das Insektenangebot entscheidend für das Überleben ihrer Jungen. In und um reinen Gewässern und Feuchtgebieten finden Vögel Nahrung – In Gewässer in schlechten Zustand, meist durch Überdungung und anderer Verschmutzung wie Pestiziden und Herbiziden, hungern oder verhungern Vögel. Manchen Vogelarten bleibt keine andere Wahl als von ihren natürtlichen Habitaten abzuwandern oder bei Menschen in Gärten und Parks nach Futter zu suchen oder zu bettel. Wobei in Städten meist Brot oder Gebäckreste von Menschen auf den Boden fallen, oder absichtlich verfüttert werden, für Vögel absolut kein ideales und krank machende Futter sind.

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