Die Schweizer Flora ist eine der reichsten und vielfältigsten Europas. Allerdings gelten über 700 Pflanzenarten als vom Aussterben bedroht. In einem landesweiten Projekt haben mehr als 400 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer bekannte Standorte aller gefährdeten Pflanzenarten der Schweiz aufgesucht und die Populationen überprüft. Forschende der Universität Bern und das Daten- und Informationszentrum der Schweizer Flora haben nun die Ergebnisse analysiert – diese sind alarmierend.
Weltweit beobachten wir einen Rückgang der Biodiversität. Aber auch lokal sterben Populationen von Arten aus. Wie häufig dies geschieht, und ob manche Arten stärker vom Rückgang betroffen sind als andere, wurde bisher anhand von Expertenwissen erfasst – denn quantitative Daten lokaler Aussterberaten zu erheben ist aufwändig. Genau solche Daten wären aber wichtig, um die Auswirkungen des menschgemachten Wandels besser zu verstehen und die richtigen Massnahmen im Naturschutz zu ergreifen.
Mit der Hilfe von 420 ehrenamtlichen Botanikerinnen und Botanikern hat «Info Flora», das Daten- und Informationszentrum der Schweizer Flora, deshalb ein schweizweites Projekt auf die Beine gestellt. Über 8000 alte, bekannte Fundstellen der 713 seltensten und gefährdetsten Pflanzenarten der Schweiz wurden von den Ehrenamtlichen zwischen 2010 und 2016 besucht und überprüft. Zusammen mit Forschenden der Universität Bern wurde dieser einzigartige Datensatz nun analysiert und die Ergebnisse in der Fachzeitschrift «Conservation Letters» publiziert.
Immer weniger Funde
Bei ihrer «Schatzsuche» gingen die ehrenamtlichen Botanikerinnen und Botaniker oft leer aus – 27% der 8024 Populationen konnten nicht wiedergefunden werden. Arten, die von Expertinnen und Experten als am stärksten gefährdet eingestuft werden, verloren gar 40% ihrer Populationen im Vergleich zu den Fundangaben, die aus den letzten 10 – 50 Jahren stammten. Diese Zahlen sind alarmierend und dokumentieren eindrücklich den Rückgang vieler gefährdeter Arten in der Schweiz. «Solche lokalen Aussterbeereignisse sind Frühwarnsysteme. Zwar verlieren wir heute nur einzelne Populationen, doch könnten schon bald ganze Arten aus der Schweiz verschwinden, vor allem wenn wir bedenken, dass viele dieser Arten nur in einigen wenigen Populationen vorkommen», erklärt Anne Kempel, Erstautorin der Studie vom Institut für Pflanzenwissenschaften der Universität Bern.
Zunehmender menschlicher Einfluss setzt Pflanzen zu
Die Studie deckte noch andere Muster auf: Besonders betroffen sind Pflanzen aus sogenannten Ruderalstandorten – Flächen, die unter ständigem menschlichen Einfluss stehen. Zu den betroffenen Pflanzenarten gehören etwa die Randvegetation von landwirtschaftlich genutzten oder besiedelten Flächen oder Ackerbegleitpflanzen. Diese Populationen zeigten mehr als doppelt so grosse Verluste wie Arten aus Wäldern oder alpinen Wiesen. «Die Intensivierung der Landwirtschaft mit einem grossen Dünge- und Herbizideinsatz, aber auch der Verlust von Kleinstrukturen wie Steinhaufen und Ackerrandstreifen setzen dieser Artengruppe besonders zu», erläutert Stefan Eggenberg, Leiter von Info Flora. Ähnlich stark betroffen sind Pflanzenarten der Gewässer, Ufer und Moore. Auch hier sind die Ursachen gemäss den Forschenden hausgemacht: Wasserqualitätsverluste durch Mikroverunreinigungen und die Düngemittelbelastung aus der Landwirtschaft, der Verlust natürlicher Flussdynamiken durch Flussbegradigungen, die Nutzung von Flüssen als Stromlieferant, oder das Trockenlegen von Moorflächen. «Das Muster in der Schweiz spiegelt die Situation in ganz Europa wieder – Ruderalstandorte, Süsswasserökosysteme sowie Moore gehören gemäss der Europäischen Roten Liste der Habitate zu den am stärksten gefährdeten Lebensräumen Europas», sagt Markus Fischer, Letztautor der Studie und Professor für Pflanzenökologie am Institut für Pflanzenwissenschaften.
Schweizer Modell deckt Handlungsbedarf auf
Das schweizweite Wiederbesuchs-Projekt ist in seiner Dimension einzigartig. «Nur dank der guten Datengrundlage und dem unermüdlichen Einsatz unserer Ehrenamtlichen konnten wir dieses Mammutprojekt stemmen», so Stefan Eggenberg. Für seine Mitarbeiter Andreas Gygax und Christophe Bornand ist das Schweizer Modell ein Vorzeigebeispiel, um den Zustand gefährdeter Arten eines Landes genauestens abzubilden, Muster zu erkennen und gezielten Handlungsbedarf aufzudecken. Stefan Eggenberg: «Diese Studie hat uns wachgerüttelt und uns ganz deutlich gezeigt, dass Habitatschutz alleine nicht ausreicht, um unsere Biodiversität zu erhalten.»
Renaturierung birgt grosses Potenzial
«Wir müssen die Arbeit im Naturschutz mit wichtigen Elementen ergänzen: der Aufbau einer ökologischen Infrastruktur, welche Habitate miteinander vernetzt und so den natürlichen Austausch von Populationen ermöglicht, kombiniert mit gezielter Artenförderung wäre ein ganz wichtiger Schritt in die richtige Richtung», ergänzt die Erstautorin Anne Kempel. Vor allem in der Kulturlandschaft, in der die meisten Populationen gefährdeter Arten verschwanden, sehen die Autorinnen und Autoren grossen Handlungsbedarf. Die Renaturierung von Fliessgewässern, das Errichten von Strukturelementen in der Agrarlandschaft wie Hecken, Steinhaufen, Tümpel, oder Randstreifen, eine weniger intensive Landnutzung und der Erhalt traditioneller Nutzungsmethoden, zusammen mit gezielter Artenförderung, könnte viele gefährdete Arten in der Schweiz, aber auch in Europa, vor dem Verschwinden bewahren. Ohne ein schnelles Handeln sehe es aber nicht gut aus für die seltensten Arten der Schweiz.
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