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Hochwasserschutz für Flusslebewesen

Ein Hochwasserereignis bedeutet Stress für die Lebewesen in einem Fliessgewässer. Wie gut sie diesen überstehen, hängt unter anderem davon ab, ob ihnen Rückzugsorte zur Verfügung stehen. In welchem Mass Flussaufweitungen im Rahmen von Revitalisierungen das Angebot an Rückzugsorten verbessern und damit die Artenvielfalt schützen, hängt entscheidend von der Geschiebezufuhr ab, wie eine aktuelle Studie von Forschenden der VAW und der Eawag zeigt.

Text von Claudia Carle, Originalveröffentlichung auf der News-Plattform der Eawag

Hochwasserereignisse, wie sie diesen Sommer wieder für Schlagzeilen sorgten, sind nicht nur für die Menschen entlang der betroffenen Flüsse einschneidend, sondern auch für die Lebewesen in den Gewässern. Sie können von den Fluten mitgerissen, verletzt oder sogar getötet werden – es sei denn, sie finden Unterschlupf in Refugien. Refugien sind Rückzugsorte, in denen die Intensität des Hochwassers gedämpft ist, wie zum Beispiel in strömungsberuhigten Bereichen oder einer temporär überfluteten Aue. Dadurch kommt Refugien eine wichtige Rolle bei der Erhaltung der Artenvielfalt in Gewässern zu. Natürliche Fliessgewässer weisen vielfältige Lebensräume und Refugien auf. Zahlreiche Flüsse in der Schweiz sind jedoch stark eingeengt und verbaut, wodurch auch das Angebot an Lebensräumen und Refugien stark reduziert wurde. In den letzten Jahren wurden grosse Anstrengungen unternommen, um Fliessgewässer mittels Revitalisierung wieder naturnäher werden zu lassen. Durch mehr Raum für die Flüsse sollen sowohl der Hochwasserschutz als auch der Schutz der Artenvielfalt verbessert werden.

Neue Lebensräume – aber sind sie auch nutzbar?

Ein Beispiel für solche Revitalisierungsmassnahmen sind eigendynamische Flussaufweitungen. Dafür wird an einem oder beiden Ufern der harte Verbau entfernt. Bei jedem nachfolgenden Hochwasser kann der Fluss das Ufer seitlich erodieren und das Flussbett sowie den Auenbereich neu gestalten. Durch diese formende Kraft kommt Hochwasserereignissen eine wichtige ökologische Rolle zu, indem sie neue und vielfältige Lebensräume schaffen.

Ob die Gewässerlebewesen diese neuen Lebensräume auch tatsächlich nutzen können – insbesondere als Refugien bei Hochwasser – hängt von zahlreichen Faktoren ab. Beispielsweise muss die Aue durch das Hochwasser überflutet und mit dem Hauptarm verbunden werden. Eine entscheidende Rolle dabei spielt der Geschiebetransport, wie eine Anfang 2021 im Journal of Ecohydraulics veröffentlichte Studie von Forschenden der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH Zürich und der Eawag zeigt. Der Geschiebetransport ist zentral für die Gestaltung und Umgestaltung des Flussbettes. Allerdings ist dieser Prozess in vielen Schweizer Fliessgewässern beeinträchtigt, da das Geschiebe beispielsweise in Kiessammlern oder in Stauräumen liegen bleibt und flussabwärts fehlt; man spricht von Geschiebedefizit. Steht in einem Fluss hingegen ungefähr so viel Geschiebe zur Verfügung wie der Fluss durchschnittlich transportieren kann, spricht man von Geschiebegleichgewicht.

Untersuchungen mit unterschiedlicher Geschiebezufuhr

«Wir wollten wissen, wie sich ein Geschiebedefizit auf das Refugienangebot für Wasserorganismen wie Fische und Insektenlarven in einem revitalisierten Flussabschnitt auswirkt», erläutern VAW-Ingenieurin Cristina Rachelly und Christine Weber, Biologin an der Eawag. Untersucht wurde dies mithilfe von Modellversuchen und numerischen Simulationen. Die Modellversuche orientierten sich dabei an den Verhältnissen in alpinen und voralpinen Flüssen. Als Referenzabschnitt diente eine einseitige eigendynamische Aufweitung an der Kander bei Frutigen BE.

Die Forschenden testeten an einem Modell des Flussabschnittes im Labor, wie sich eine eigendynamische Flussaufweitung bei unterschiedlicher Geschiebezufuhr entwickelt. Die Geschiebezufuhr entsprach 20, 60 oder 100% der Geschiebemenge, welche der kanalisierte Fluss bei einem bestimmten Abfluss transportieren könnte. Das heisst, es wurden ein starkes und ein mittleres Geschiebedefizit bzw. ein Geschiebegleichgewicht angenommen. Das dabei geformte Flussbett wurde in regelmässigen Abständen vermessen. Die ermittelten Topografien bildeten die Grundlage für hydrodynamische numerische Simulationen. Mit diesen wurden bei verschiedensten Abflüssen für den gesamten Flussabschnitt hydraulische Kenngrössen wie etwa Wassertiefe, Fliessgeschwindigkeit und Sohlschubspannung ermittelt.

Mehr Vielfalt und Wasserfläche bei Geschiebegleichgewicht

«Die Ergebnisse zeigen, dass sich bei Geschiebegleichgewicht der Hauptarm verbreitert, teilweise in mehrere Gerinne aufteilt und durch eine Anhebung des Flussbetts die Anbindung der Aue verstärkt. Durch Erosion und Ablagerung bildet sich ein Mosaik vielfältiger Lebensräume und damit auch viele Bereiche, wo sich die Wasserlebewesen bei Hochwasser in Sicherheit bringen können», so die beiden Forscherinnen. Ausserdem werde die Aue bereits bei kleineren Hochwasserereignissen, wie sie durchschnittlich alle 1 bis 2 Jahre auftreten, überflutet und damit für die Wasserlebewesen zugänglich.

Bei Geschiebedefizit hingegen verbreitert sich der Hauptarm kaum, bleibt von der Aue abgetrennt und  das Wasser fliesst fast durchwegs mit hoher Geschwindigkeit und Tiefe ab. «Der Fortbestand eines eingetieften Einzelgerinnes hat zur Folge, dass die Aue tendenziell erst bei grossen Hochwassererreignissen mit Wiederkehrperioden von 30 bis 100 Jahren überflutet wird», erläutern die Forscherinnen. Bei häufigeren Hochwasserereignissen stehen den Lebewesen somit kaum Refugien zur Verfügung.

Die zentrale Rolle des Geschiebehaushalts

Diese Untersuchung ist nur ein Beispiel für die komplexen Wechselwirkungen, die bei Revitalisierungen berücksichtigt werden müssen. «Die Entwicklung dynamischer Flussaufweitungen ist unter anderem stark abhängig vom übergeordneten Geschiebehaushalt», erklären Rachelly und Weber. Einerseits kann ein Geschiebedefizit dazu führen, dass sich eine Flussaufweitung nicht so dynamisch wie gewünscht entwickelt. Andererseits werden durch die Untersuchung auch mögliche Synergien unterschiedlicher Revitalisierungsanstrengungen aufgezeigt. Die Sanierung des Geschiebehaushalts kann dazu führen, dass Flussaufweitungen dynamischer werden und damit bei Hochwasserereignissen mehr Refugien für Gewässerorganismen zur Verfügung stehen. Allerdings geben die Forschenden zu bedenken, dass Hochwasserereignisse nur ein mögliches Störereignis sind. Hinsichtlich der Auswirkungen anderer Störereignisse besteht ebenfalls noch Forschungsbedarf. Von Bedeutung sind hier vor allem Hitze- und Trockenperioden, deren Häufigkeit durch die Klimaerwärmung zunimmt.


Originalpublikation

Cristina Rachelly, Kate L. Mathers, Christine Weber, Volker Weitbrecht, Robert M. Boes & David F. Vetsch (2021) How does sediment supply influence refugia availability in river widenings? Journal of Ecohydraulics, 6:2, 121-138, DOI: https://doi.org/10.1080/24705357.2020.1831415

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