Gebrochene Flügel, Hirnerschütterungen oder Verletzungen durch Katzen – seit fast vierzig Jahren kümmert sich der Ornithologe Christoph Meier-Zwicky in seiner Pflegestation in Malans GR um verletzte Vögel. Im Gespräch erzählt der pensionierte Arzt von seinen gefiederten Patienten und erklärt, weshalb die Aufzucht von Jungvögeln so schwierig ist.
Mitte Juli erhalte ich eine Nachricht von Christoph, ich solle doch möglichst bald vorbeikommen, er hätte zwei spannende Patienten. Neugierig mache ich mich auf den Weg. Während ich vor seiner Haustüre warte, fallen mir die vielen Mehlschwalben auf, die mit wendigen Manövern um das Haus fliegen. Bei genauerem Hinschauen entdecke ich zahlreiche künstliche Nisthilfen, die Christoph an der Fassade angebracht hat. Die Aufzucht der jungen Mehlschwalben ist in vollem Gange: Die fleissigen Eltern schaffen beinahe im Minutentakt Nahrung herbei, aber die Bettelrufe des hungrigen Nachwuchses verstummen nicht.
Obwohl Christoph auch im Ruhestand vielbeschäftigt ist, nimmt er sich Zeit, mir die Pflegestation zu zeigen und über seine langjährigen Erfahrungen zu berichten. Zuerst führt mich Christoph in den hinteren Bereich seines naturnahen Gartens. Wir kommen an einem Käfig mit stimmfreudigen, exotischen Ziervögeln vorbei. Einige haben Ähnlichkeiten mit unseren einheimischen Vögeln, andere tragen ein buntes Federkleid und Namen, die ich noch nie gehört habe. Sie sind aber nicht Teil der Pflegestation und hüpfen entsprechend lebhaft im Käfig umher. In einer separaten Voliere befindet sich der erste Patient: Ein adulter Baumfalke sitzt aufrecht auf einem Ast und fixiert uns regungslos mit seinen pechschwarzen Augen. Der flinke Jäger erholt sich von der Kollision mit einer Fensterfront. Christoph erzählt, dass Kollisionen mit Glasscheiben, Fahrzeugen oder Drahtseilen neben Angriffen von Katzen zu den häufigsten Verletzungen seiner Patienten zählen. «Wenn die Vögel beim Aufprall nicht allzu schnell sind, erleiden sie oft eine Hirnerschütterung, andernfalls sterben sie unmittelbar», so der pensionierte Arzt. Bei einer Hirnerschütterung stellt er die Vögel ein paar Stunden ruhig, sprich er bringt sie in einen dunklen Raum und wartet ab. Einige erholen sich relativ schnell und können schon am nächsten Tag freigelassen werden, bei anderen dauert es ein paar Tage. «Viele sterben aber an inneren Blutungen, die unentdeckt bleiben und nicht behandelt werden können. Auch beinahe alle Opfer von Katzenangriffen überleben nicht», bilanziert Christoph. Durch die scharfen Krallen und Zähne entstehen sehr feine Verletzungen, die selbst für das geschulte Auge kaum zu sehen sind. Häufig gelangen an diesen Stellen Bakterien ins Körperinnere und führen zu einer Blutvergiftung. Sie tritt plötzlich auf, führt zu Organversagen und schliesslich zum Tod. Zwar können gewisse Vögel mit Antibiotika behandelt werden, aber Christoph setzt sie sehr zurückhaltend ein: «Schliesslich praktiziere ich hier keine Humanmedizin».
Auch die Aufzucht von Jungvögeln ist ein schwieriges Thema, meint Christoph nachdenklich. Sie ist nur mit viel Mühe und grossem Aufwand möglich. Die Jungvögel brauchen Wärmelampen und müssen tagsüber regelmässig gefüttert werden. Jüngere lassen sich zwar relativ leicht füttern, weil sie gut «sperren». Das heisst, sie öffnen ihren Schnabel, sobald Nahrung im Anflug ist. Bei älteren Jungvögeln, die kurz vor dem Ausfliegen sind, ist dies viel schwieriger. Die meisten erkennen, dass sie nicht von den Eltern gefüttert werden und öffnen darum den Schnabel nicht mehr. Sie müssen zwangsernährt werden, wogegen sie sich natürlich wehren. Das Hauptproblem der Jungvogel-Aufzucht liegt laut Christoph aber woanders: «Den Jungvögeln fehlt eine Prägung durch die Eltern, die vor natürlichen Feinden wie Katzen oder Elstern warnen.» Oft kommt es leider vor, dass die Jungvögel unmittelbar nach ihrer Freilassung einem Fressfeind zum Opfer fallen. Dieser Anblick ist nur schwer zu ertragen, gesteht der sonst sehr abgeklärte Ornithologe und legt eine Denkpause ein. In diesem Moment ertönen die schrillen Rufe vorbeifliegender Mauersegler. Christoph blickt ihnen nach und sagt, es gäbe doch einen Lichtblick bei der Jungvogelaufzucht: Junge Mauersegler könnten relativ gut anderen Artgenossen untergejubelt werden, sofern deren Nachwuchs etwa gleich alt sei. Meistens würden sie den Neuzugang problemlos aufziehen, wie er an seinem eigenen Mauersegler-Nistkasten bereits feststellen konnte. Bei Mehlschwalben sei dies schon schwieriger. Manchmal würden die Adulten den Fremdling erkennen und aus dem Nest werfen. Christoph meint abschliessend: «Jungvögel sollten möglichst an ihrem Fundort gelassen werden. In den meisten Fällen werden sie weiterhin von ihren Eltern betreut. Die Chance, dass sie überleben, ist somit höher als in einer Pflegestation». Was nicht heisst, dass er nicht alles für die Jungvögel in seiner Pflegestation unternimmt!
Der zweite Patient befindet sich in einem Käfig im Anbau des Wohnhauses. Er lässt sich aufgrund des hellblau-orangen Federkleids, des langen Schnabels und gedrungenen Körpers leicht erkennen – ein Eisvogel. Auch er ist mit einer Fensterfront kollidiert und sitzt apathisch da. Äusserlich ist er unverletzt, aber Christoph äussert sich besorgt: «Leider frisst er nicht von selbst. Ich habe ihn bereits gefüttert, aber er würgt die Fische nach kurzer Zeit wieder aus. Wenn er nicht bald frisst, sieht es schlecht aus.» Die Fische wurden vom Wildhüter des Kantons St. Gallen mitgeliefert, als er den verletzen Vogel vorbeibrachte. Christoph hält für jeden Patienten geeignete Mahlzeiten bereit: In einer offenen Büchse tummeln sich Mehlwürmer, in einer kleinen Gefriertruhe sind Vögel, Mäuse, Fische, Drohnenwaben, Hackfleisch und Wild gelagert. Letzteres erhält er bei Bedarf von Wildhütern. Dabei handelt es sich um Tiere, die beispielsweise bei einem Verkehrsunfall starben. «Ihr Fleisch darf nicht zum Verkauf freigegeben werden, obwohl es oft gut aussieht und bestimmt lecker schmeckt», meint Christoph schmunzelnd. Weil er früher oft zu wenig Mäuse hatte, stieg er auf Wild um. Mittlerweile wird Christoph aber regelmässig von einem Mäusejäger aus der Gegend beliefert, der eine kleine Entschädigung für jeden abgelieferten Mäuseschwanz erhält. Und wofür werden die Drohnenwaben verwendet? Mit Insektenschrot gemischt, sind sie eine gute Nahrung für Weichfresser wie Drosseln oder Jungvögel.
Bei meinem zweiten Besuch Mitte August sind die Mauersegler bereits nach Afrika aufgebrochen und die Mehlschwalben mit der Zweitbrut beschäftigt. In der Zwischenzeit sind zwei neue Patienten eingetroffen: eine Strassentaube und eine Lachmöwe. Erstere war ausgehungert, die Lachmöwe vermutlich durch einen Greifvogel erheblich verletzt worden. Ich erkundige mich nach den beiden Patienten meines ersten Besuchs. Zuerst die schlechte Nachricht: Der farbenprächtige Eisvogel hat leider nicht überlebt. Er weigerte sich weiterhin zu fressen und wurde zunehmend schwächer. Christoph hat ihn schliesslich eingeschläfert, um ihm weiteres Leid zu ersparen. Und nun zur guten Nachricht: Der Baumfalke konnte nach etwa drei Wochen in die Freiheit entlassen werden. Woran erkannte Christoph überhaupt, dass der Vogel vollständig genesen war? «Er flog immer besser in der Voliere hin und her. Irgendwann hing er kopfüber am Gitter, für mich ein Zeichen innerer Unruhe», so der Ornithologe. Eine absolute Sicherheit gäbe es natürlich nie, ob ein Vogel nicht zu früh aus der Pflege entlassen wurde. Gerade bei lebhaften Arten wie beispielsweise dem Sperber sei es extrem schwierig, den optimalen Zeitpunkt für die Freilassung zu erkennen. Es kam auch schon vor, dass ein Sperber nach wenigen Tagen in der Freiheit wieder in die Pflegestation gebracht wurde.
Während unseres Gesprächs setzt kräftiger Regen ein. Zwei Amseln scheint dies nicht zu stören, sie streiten lautstark im Garten. Zum Abschluss äussert sich Christoph über seine Zukunftspläne: Gemeinsam mit dem Kanton arbeitet er an einem grossflächigen Netz von Pflegestationen, um unnötig lange Transportwege für die verletzten Tiere zu verhindern und auch sich selbst ein wenig zu entlasten. «Langfristig möchte ich die Pflege von Singvögeln abgeben und mich nur noch um grössere Vögel wie Greifvögel oder Eulen kümmern», sagt er und bricht zu seinem nächsten Patienten auf.
Vielen Dank, Christoph Meier-Zwicky, für das spannende Gespräch und deinen unermüdlichen Einsatz für die Avifauna.