Mehrsortenbäume sicherten über Jahrhunderte vor allem den Selbstversorgern über Monate frisches Obst. Mit der Entwicklung des Erwerbsobstbaus ging diese Tradition verloren. Heute finden sich Mehrsortenbäume in Kleingärten.
Dieser Tipp wird präsentiert vom Fundus Agri-Cultura Alpina.
Der Mittelast mit „Trévoux“, die Gerüstäste mit „Williams“, „Konferenzbirne“ und „Gute Luise“: So wollte der ostdeutsche Pomologe Herbert Petzold in den 1980er-Jahren ein Comeback des Mehrsortenbaumes für die Selbstversorger anregen: Das sind Obstbäume, die mit mehreren Sorten veredelt werden. Er setzte dabei vor allem auf die Birne, die weit bessere Resultate zeitigte als die Äpfel. Damit griff er auch auf die historische Erfahrung zurück. Birnbäume waren bis ins frühe 20. Jahrhundert häufiger gewesen als Apfelbäume, die für den Handel wegen ihrer besseren Haltbarkeit interessanter waren. Doch die stattlichen Birnbäume warfen auch grosse Ertragsmengen im ungünstigen Zeitpunkt ab, wenn praktisch alles Obst und Gemüse im Vollertrag stand. Petzold arbeitete deshalb Empfehlungen für Birnbäume aus, die am Mittelast und den Gerüstästen vier verschiedene Sorten trugen. Mit zwei unterschiedlich bepfropften Bäumen liesse sich so eine häusliche Versorgung von Ende Juli bis Anfang Februar sicherstellen. Das, so Petzold, lohne sich auch wirtschaftlich. Solche Gedanken sind angesichts einer fast ganzjährigen Versorgung mit Obst aus Kühlhäusern und Übersee heute Makulatur.
Die Römer hatten den Obstbau in die Schweiz gebracht und pflegten auf ihren Landgütern Obstkulturen, wobei, wie Plinius der Ältere im 1. Jahrhundert hervorhob, vor allem die Edelkirsche beliebt war. Die Alemannen scheinen diese Tradition zumindest in Teilen weiter gepflegt zu haben. Neben der Kirsche wurden auch Pflaumen, Feigen und Kornellkirschen kultiviert. Im Hochmittelalter war der Obstbau ein adeliges und kirchliches Privileg. Karl der Grosse erliess die ersten Gesetze zum Schutz der Obstgärten. Es drohten bei Obstfrevel strenge Strafen bis zum Abhacken der rechten Hand. Mit der Ausbreitung der Dreizelgenwirtschaft wurden um die Höfe Baumgärten angelegt, in deren Schatten das Gras wuchs. Frisch konsumiert wurden primär die Äpfel. Kirschen, Pflaumen und Birnen wurden gedörrt – noch über Jahrhunderte. Züchtung und Veredlung waren weitgehend Sache der Bauern.
Mit dem ab 1639 in mehreren Auflagen erschienen Standardwerk „Pflanz-Gart“ des Berner Pfarrers Daniel Rhagor begann die Systematisierung des Obstbaus auch im bäuerlichen Milieu. Nach und nach setzten sich erste Kultursorten durch, die auch kommerziell interessant waren. Frisches und gedörrtes Obst war im In- und Ausland begehrt. Obstbäume wurden nun an Strassenrändern, in Gräben und auf Äckern gepflanzt, in der West- und Zentralschweiz wurden grosse Plantagen angelegt. Auch Kleinbauern und Landlose bewirtschafteten in ihren Hausgärten Obstbäume, die primär der Selbstversorgung dienten. Mehrsortenobstbäume waren dort die Regel.
Mit der Industrialisierung verschwanden viele dieser Kleingärten aus den Städten. Die ländlichen Gebiete schlüpften mehr und mehr in die Rolle der Obstlieferanten, aus vielen Selbstversorgern wurden Marktlieferanten. Der Handel verlangte nach einheitlicher Ware, die landwirtschaftlichen Gesellschaften machten Sortenempfehlungen und halfen mit der Abgabe von Propfreisern nach. Die Birnbäume wurden nach und nach von den Apfelbäumen verdrängt, deren Früchte haltbarer waren und deren Saft bei den Städtern besser ankam. Der einst schier unüberblickbare Sortenreichtum schwand in den folgenden Jahrzehnten nach und nach, und mit dem Übergang zum Intensivobstbau seit den 1960er-Jahren veränderte sich auch das Landschaftbild.
Praktisch verschwunden ist auch eine bei Selbstversorgern wahrscheinlich seit vielen Jahrhunderten beliebte Methode: der Mehrsortenbaum. Diese waren mangels Konservierungsmöglichkeiten und zum Ausgleich der Launen von Wetter und Klima daran interessiert, möglichst viele Sorten zu ernten. Wo es an Platz mangelte, wurden deshalb mehrere Sorten auf einen Baum gepropft, sodass im Idealfall vom Frühsommer bis in den Spätherbst geerntet werden konnte. Der norddeutsche Pfarrer Johann Georg Conrad Oberdieck legte, besorgt um die dem Obstbau verpflichteten Schäfchen seiner Gemeinde Bardowick – wo Frostschäden an der Tagesordnung waren -, in den 1820er-Jahren einen Obstgarten mit „Probebäumen“ an, die eine grosse Anzahl verschiedener aufgepfropfter Apfelsorten trugen. Damit betrieb er vergleichende Studien zur Bestimmung optimaler Sorten. Mit der Wirklichkeit der vor allem den Selbstversorgern dienenden Mehrsortenbäume hatten diese Studien nicht viel zu tun. Für die Selbstversorger zählte vielmehr das über Generationen weiter gegebene Erfahrungswissen, das nach und nach in Vergessenheit geriet.
Der Mehrsortenbaum, der einst einen wichtigen Beitrag zur Ernährung geleistet hatte, ist zur Liebhaberei geworden. Am Strickhof in Winterthur-Wülflingen, einem kantonalen Kompetenzzentrum für Bildung und Dienstleistungen in Land- und Ernährungswirtwschaft, haben Mitarbeiter demonstriert, was möglich ist: An einem 20-jährigen Apfelbaum wurden 27 Apfelsorten aufgepfropft. Dieses Frühjahr soll die Zahl auf 50 erhöht werden.
Mehr zu alten Apfel- und Obstsorten, Gemüse, Tierrassen, Kulturtechniken und Brauchtum auf www.fundus-agricultura.wiki der Online-Datenbank für das traditionelle Wissen im Alpenraum. Dieses oft nur lokal verbreitete und mündlich überlieferte Kulturgut gerät mehr und mehr in Vergessenheit. Fachkundige Laien sind herzlich zum Mitmachen eingeladen. Anmeldung und Anleitung auf der Website von Fundus Agri-Cultura Alpina.