Von Füchsen in den Städten sprechen alle und auch seltene Vögel treten dort auf. Dass Städte auch eine Arche Noah für Pflanzen sind, davon hört man in den Medien weniger. Doch seltenere Pflanzen können sich in unseren Städten wohlfühlen, auch wenn sie mit der wöchentlich oder jährlich fälligen Grünlandpflege nur indirekt gefördert werden. Der folgende Artikel präsentiert vier Beispiele aus der Stadt Zürich. Drei Arten stehen auf der nationalen Roten Liste der Gefässpflanzen. Die vierte ist nicht gefährdet, aber für die Stadt Zürich etwas ungewöhnlich. Diese Beispiele machen Mut: Auch wenn vielerorts bedrohte Arten verschwinden, gelegentlich weiss sich die Natur doch selbst zu helfen!
Geschrieben von Rolf Rutishauser, Institut für Systematische und Evolutionäre Botanik der Universität Zürich. Artikel aus der «FloraCH – Die Botanische Zeitschrift der Schweiz» (N°12, Frühlingsausgabe 2021)»
Kriechender Sellerie (Apium repens, syn. Helosciadium repens)
Der Kriechende Sellerie kommt in der Schweiz und in Mitteleuropa nur noch an wenigen Orten wild vor. Entsprechend wird er auf der Roten Liste der Schweiz als vom Aussterben bedroht eingestuft. Doch scheint er sich gelegentlich einen Spass daraus zu machen, aus Wasserbecken, in denen er kultiviert wird, in umliegende Grünflächen auszubüxen. Dies ist beispielsweise aus dem Botanischen Garten der Universität Zürich bekannt. Dort gedeiht er – ohne direkte menschliche Hilfe – seit gut 20 Jahren im Rasen zwischen Teich und Wasserpflanzengarten auf einer Fläche von mehreren Quadratmetern, zusammen mit Gräsern, Weissklee und Kleiner Brunelle. Als lichtbedürftige Art schätzt der Kriechende Sellerie im Sommer den wöchentlichen Rasenschnitt. Mit seinen Kriechsprossen und den nur zwei bis vier Zentimeter nach oben ragenden Fiederblättern und Blütentrieben übersteht er die wöchentliche «Rasur» unbeschadet. Der Botanische Garten Zürich ist kein Einzelfall: Apium repens ist vereinzelt auch anderswo in Rasenflächen anzutreffen.
Wilder Reis, Reisquecke (Leersia oryzoides)
Der «Wilde Reis» wird in der Roten Liste als verletzlich aufgeführt. Gemäss der neuen Flora des Kantons Zürich verteilen sich die Fundstellen der Art auf 5 Prozent der Flächen. Um 1900 war die Art in dreimal so vielen Flächen belegt. Wohl über Jahrzehnte unbemerkt hat sich der Wilde Reis in einem Graben in Zürich-Oerlikon entlang der Andreasstrasse und der Bahnlinie Oerlikon–Wallisellen gehalten. Es ist ein stattlicher Bestand von 100 Metern Länge, mit Pflanzen von bis zu eineinhalb Metern Höhe.
Seit knapp 150 Jahren ist das Vorkommen durch Angaben des einstigen ETH-Herbarkonservators Jakob Jäggi historisch verbürgt: «Gräben bei Oerlikon, rechts und links der Bahn». Ohne weiter auf Leersia oryzoides zu achten, wird heute beim Herbstschnitt im September der ganze Pflanzenbestand gemäht und der Wassergraben entlang der Bahnlinie gereinigt. Beim Pflegeschnitt im Juni bleiben nur grosswüchsige dekorative Pflanzen stehen, also Froschlöffel (Alisma plantago-aquatica), Gelbe Schwertlilie (Iris pseudacorus) und Aufrechter Igelkolben (Sparganium erectum) – und darin als «kletternder Trittbrettfahrer» auch der unscheinbare Wildreis! Die jährlich wiederkehrende Mahd scheint den Wildreis mit seinen unterirdischen Ausläufern nicht zu stören. Er treibt einfach wieder aus.
Durchwachsener Bitterling (Blackstonia perfoliata)
Auswahlkriterium für die hier beschriebenen Arten war, dass sie der Mensch nicht direkt an den ihnen zusagenden Platz in der Stadt gepflanzt hat. Sie haben diesen selbst gefunden! Ähnlich dem Kriechenden Sellerie im Botanischen Garten gibt es nun auch im Irchelpark der Universität Zürich eine Art, die aus dem ihr zuerst zugewiesenen Platz «geflohen» ist. Es handelt sich um den Durchwachsenen Bitterling, ein annuelles Gewächs, das gemäss Roter Liste zu den verletzlichen Arten zählt. Ausgebracht hatte diese Art der Zürcher Hobby- botaniker Rudolf Mezger zusammen mit Gärtnern des Botanischen Gartens der Universität Zürich im Jahr 1996. Auf der für sie bestimmten kiesigen Rasenfläche ist sie längst verschwunden. Doch der Wind hat Samen an einen 50 Meter entfernten nährstoffarmen, lehmhaltigen Hang unterhalb der ehemaligen Hauptbibliothek Irchel getragen. Der Durchwachsene Bitterling gedeiht dort seit bald 25 Jahren mit einem prächtigen Bestand von 100 bis 200 Exemplaren. Das Vorkommen im Irchelpark geht demnach auf eine «indirekte Ansalbung» zurück. Jeden Herbst wird der Hang bodennah gemäht.
Durchwachsener Bitterling an lehmigem Hang im Irchelpark. © Thomas Geissmann Tannenbärlapp in einem Innenhof der Universität Zürich-Irchel. © Thomas Geissmann
Tannenbärlapp (Huperzia selago)
Gewisse Pflanzenarten sind im Gebirge häufig, doch in den Städten des Schweizer Mittellands sucht man sie meist vergebens. Dies trifft für den Tannenbärlapp zu, der aber in einem Innenhof des Irchel- Campus der Universität Zürich in mehreren Exemplaren gedeiht. Der Standort ist staunass und erhält wegen der angrenzenden Gebäudefassade kein direktes Sonnenlicht. Am selben Ort wachsen schattenliebende Moose wie beispielsweise das Wurzel-Sternmoos (Rhizomnium sp.), dazu zahlreiche Orchideen. Unklar ist, wie der Tannenbärlapp den Weg in den Irchel- Campus gefunden hat. Gemäss der Flora des Kantons Zürich befindet sich der nächstgelegene Fundort in der Region Forch-Pfannenstiel. Im selben Innenhof gedeiht – an besonnter Stelle – mit mehr als 100 Exemplaren auch ein grosser Bestand des Trauben-Gamanders (Teucrium botrys), der gemäss Roter Liste zu den verletzlichen Arten zählt.
Zwei der vorgestellten Arten (Apium, Blackstonia) sind ausgebüxt und gedeihen nun an von ihnen selbst gewählten Standorten, auch wenn dort – ohne Rücksicht auf sie – wöchentlich respektive jährlich gemäht wird. Die anderen haben den Weg in die Stadt selbst gefunden (Huperzia, Teucrium) oder – heimlich und unbeachtet – jahrzehntelang als «Trittbrettfahrer» überdauert (Leersia). «Hilfe zur Selbsthilfe» heisst der in der globalen Entwicklungshilfe übliche Slogan. Für die hier erwähnten Pflanzen trifft er auch zu. Sie schätzen die in der Stadt übliche Grünlandpflege und wachsen dort, wo man sie nicht hingepflanzt hat.