Weniger ist mehr – dieser Gedanke geht einher mit dem wachsenden Bewusstsein für einen nachhaltigeren Lebensstil. Weniger Konsum bedeutet mehr Nachhaltigkeit. Sebastian Moos schreibt in seinem Essay, welche grosse Wirkung das Konsumverhalten auch auf die Wildnis hat. Und weshalb ein bewusster Verzicht für die Wildnis wichtig ist.
Stellen Sie sich – mit etwas wissenschaftlicher Grosszügigkeit – Folgendes vor: Sie sind der erste Mensch auf Erden, der nicht nur jagt und sammelt. Wir befinden uns irgendwo, irgendwann in der Steinzeit. Sie entschliessen sich, ein kleines Stück Wald zu roden und Getreide anzubauen. In diesem ersten Getreidefeld der Menschheit bauen Sie auch gleich noch einen kleinen Weg, der das Bewirtschaften erleichtert. Wenn wir Wildnis als Naturraum mit frei ablaufenden Prozessen und ohne Infrastruktur definieren, sind Sie damit der erste Mensch, der ein Stück Wildnis zerstört hat (einmal von übermässigem Jagen und Sammeln abgesehen). Ihr Getreidefeld von 100 Quadratmetern Grösse hat noch eine Wildnisqualität von 12 auf einer Skala von 20: Es ist ja immer noch recht naturnah, Sie haben weder einen Bach begradigt noch einen Sumpf trockengelegt. Der menschliche Einfluss hält sich in Grenzen. Das Getreidefeld ist im heutigen Vergleich noch immer sehr abgelegen. Doch ihre Getreidekörner kommen bei den Steinzeitmenschen blendend an und es stellt sich für Sie nach einigen Jahren die Frage: Wollen Sie ihre Produktion intensivieren (z.B. durch mehr Pflanzen auf der gleichen Fläche) oder wollen Sie eine neue Waldfläche für ein zusätzliches Getreidefeld roden? Beides wirkt sich auf jeden Fall negativ auf Wildnis aus: Es entstünden entweder 200 Quadratmeter mit Wildnisqualität 12 oder 100 Quadratmeter mit Wildnisqualität, sagen wir: 8.
Zehn Prozent weniger Wildnis seit 1990
Wir spulen nun ein paar tausend Jahre nach vorne. Sie kennen den Verlauf der Geschichte: Aus den Pfaden von einst sind Strassen und Trassen geworden, um das Getreide bis in entlegene Regionen zu transportieren. Aus den Höhlen und Lehmhütten sind Wolkenkratzer und Innenstädte geworden. Aus dem Getreidefeld mit Wildnisqualität 12 sind Millionen von Quadratkilometern von Fläche geworden, auf denen wir Lebensmittel, Holz und andere Konsumgüter meist sehr intensiv an- und abbauen. Die Wildnisqualität solcher Flächen tendiert oft gegen 0. Sie sind weder abgelegen, noch naturnah und schon gar nicht ohne menschliche Einflüsse. Eine neuere Studie schätzt, dass alleine seit den 1990er-Jahren durch menschliches Tun rund zehn Prozent der verbliebenen grossen Wildnisflächen weltweit verlorengegangen sind, vor allem im Amazonasgebiet und in Zentralafrika.
Unser Konsumverhalten prägt die Wildnisqualität
Nun verlangt eine wachsende Bewegung, darunter auch Mountain Wilderness Schweiz, dass die letzten Wildnisräume zu sichern seien: Hier sollen die Prozesse frei ablaufen können und keine Infrastruktur gebaut werden. Dieser Schutz der letzten Wildnisräume ist wichtig und richtig: Es sind Rückzugsräume für Tiere und Pflanzen und Erfahrungsräume für uns Menschen. Einen entscheidenden Hebel lassen wir allerdings ausser Acht, wenn wir einzig auf den Schutz pochen: Wenn wir an den ersten Getreidebauer der Welt zurückdenken, dann hat er sein Feld in erster Linie erweitert oder intensiviert, weil der Bedarf an Getreide gewachsen ist. Wir müssen die Wildnis vermehrt von der Nicht-Wildnis her denken: Das Amazonasgebiet wird unter anderem wegen unseres Bedarfs an Fleisch gerodet; Sie wissen schon, wegen Soja und so. Infrastruktur wird unter anderem wegen unseres Hungers nach Energie (Staumauern usw.) und Spass (Tourismus) in die Berge getrieben. Die Siedlungsfläche wächst unter anderem wegen des gewachsenen Raumbedarfs. Die globale Wildnisqualität wird also ganz massgeblich von unserem Konsumverhalten geprägt. Wir alle haben einen individuellen und globalen Wildnis-Fussabdruck, der sich aus der Menge des Konsums und der Nachhaltigkeit der Produktion ergibt: Welche Fläche nutze ich und wie nutze ich diese? Wenn ich weniger Fleisch esse, und wenn, dann aus nachhaltigen Quellen, dann verkleinert dies auch meinen Wildnis-Fussabdruck. Wenn ich Velo anstatt Auto fahre, dann ebenfalls; denken Sie nur an die zerstörerischen Auswirkungen der Erdölförderung! Weniger Mobilität– mehr Wildnis! Weniger Kleider – mehr Wildnis! Weniger Smartphones – mehr Wildnis! Weniger Strom – mehr Wildnis!
Als Vorbild vorangehen
Mir ist bewusst, dass die Verknüpfung von Konsum und mehr Wildnis nicht immer so direkt ist; oft sind die Auswirkungen erst nach vielen Jahren sichtbar. Nur weil ich weniger Auto fahre, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass weniger Erdöl gefördert wird. Zudem hat jede Technologie ihre Schattenseiten. Erst wenn viele Menschen mitmachen, kann sich global gesehen etwas ändern. Die Aufgabe, Wildnis zu erhalten, liegt zudem nicht nur an jedem einzelnen, auch Unternehmen, Politik und die Gesellschaft im Allgemeinen tragen Verantwortung. Der Staat kann den Wildnis-Fussabdruck massgeblich mitprägen, indem er zum Beispiel sanfte Formen der Landwirtschaft fördert, die einen geringeren Wildnis-Fussabdruck haben; oder indem er schaut, dass nicht falsche Anreize geschaffen werden. Es geht auch nicht darum, um jeden Preis mehr Wildnis zu haben und in die Steinzeit zurückzukehren: Es braucht Flächen, die wir nutzen, und zwar so nachhaltig wie es die Umstände zulassen. Bei meinem Konsum habe ich allerdings den direktesten Hebel, kann als Vorbild vorangehen. Und zum Konsum gesellt sich ein weiterer Kollege, nämlich das Verhalten: Wie bewege ich mich in Wildnisräumen? Achte ich auf Schutzbestimmungen und hinterlasse so wenige Spuren wie möglich? Bei Wildnis geht es immer auch um Verzicht: Den Verzicht darauf, jede Fläche zu nutzen, die wir nutzen könnten. Den Verzicht darauf, jeden Raum zu betreten, den ich betreten könnte. Da leiste ich gerne meinen Beitrag und verzichte für die Wildnis.