Gegen die geplante Erhöhung der Grimsel-Staumauer haben Aqua Viva, die Schweizerische Greina-Stiftung und der Grimselverein erneut Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Das Projekt der Kraftwerke Oberhasli AG bedroht nicht nur geschützte Lebensräume in einer einzigartigen Berglandschaft es wirft auch die Frage auf, wie viel Raum wir der Natur noch zugestehen.
Text von Hanspeter Steinmetz, Geschäftsführer von Aqua Viva, Artikel aus der «Aqua Viva – die Zeitschrift für Gewässerschutz #4/2019)»
Die Erhöhung der Grimsel-Staumauer beschäftigt Behörden, Gerichte und Naturschutzverbände seit vielen Jahren. Aqua Viva und andere Naturschutzorganisationen legten bereits 2012 Beschwerde gegen das Projekt ein. Ein erster Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern aus dem Jahr 2015 bestätigte noch die Position der Naturschutzverbände aufgrund des Moorschutzes, wurde jedoch 2017 vom Bundesgericht revidiert. Grund war ein Beschluss des Bundesrats aus dem Jahr 2004, mit dem er den Perimeter der Grimsel-Moorlandschaft um 27 Meter nach oben verschob. Jene Flächen rund um den Grimsel-Stausee, die durch die Erhöhung der Staumauer geflutet würden, standen damit nicht mehr unter Moorschutz. Da sich beide Instanzen in ihrem Urteil jedoch lediglich auf den Moorschutz und nicht auf die Schutzbestimmungen in BLN-Gebieten beziehen, musste das Verwaltungsgericht des Kantons Bern den Fall nochmals behandeln.
Am 25. Mai 2019 erklärte das Verwaltungsgericht die Erhöhung der Grimsel-Staumauer nun ebenfalls für zulässig. Aqua Viva, die Schweizerische Greina-Stiftung und der Grimselverein haben dagegen erneut Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht.
Unberührte Lebensräume mit grosser Artenvielfalt
Das Gebiet um den Grimsel-Stausee gehört zum Vorfeld des Unteraargletschers und ist Teil des BLN-Gebiets «Berner Hochalpen und Aletsch-Bietschhorn». Abgesehen vom Stausee, welcher knapp 20 Prozent des Gletscher-Vorfelds bedeckt, ist das Gletschervorfeld nahezu unberührt. Seit dem Aufstau 1932 ist eine alpenwirtschaftliche Nutzung nicht mehr möglich.
Bis Ende der 1950er Jahre mündete die Gletscherzunge in den Stausee. Seitdem zieht sich der Gletscher zurück und hinterlässt eine stetig wachsende Schwemmebene im Talboden – dort konnte sich die Natur bislang ungestört entwickeln. Bis Anfang der 1990er-Jahre verlief dieser Prozess eher unauffällig. Durch das massiv beschleunigte Abschmelzen der Gletscherzunge in den letzten 25 Jahren hat sich das Gebiet im Talboden jedoch spektakulär verändert. Die grosse Dynamik der jungen Aare und das unglaublich vielfältige Material, das der Gletscher zurück- lässt, bieten ein enormes Potential für die weitere Vegetationsentwicklung.
Auf älteren Schotter-Terrassen sowie auf den am längsten eisfreien Flächen am See-Ende haben sich bereits riesige Moosteppiche von Grauer Zackenmütze (Racomitrium canscens) gebildet (1). Auf vernässten Standorten entstanden Flach- und Hochmoore. Sie bilden die Moorlandschaft Grimsel von nationaler Bedeutung (2). Die Flachmoore sind teilweise nur wenige Quadratmeter gross, weisen aber Besonderheiten wie den fleischfressenden Langblättrigen Sonnentau (Drosera anglica) auf. Im Objektbeschrieb des BAFU zum BLN-Gebiet heisst es: «Die Moorlandschaft Grimsel ist dank ihrer Ursprünglichkeit und der hohen Vielfalt an Pflanzen- und Tierarten eine der schönsten Moorlandschaften der Schweiz.» (3).
Wasserkraftnutzung von nationalem Interesse?
Die von der Kraftwerke Oberhasli AG (KWO) geplante Erhöhung der Grimsel-Staumauer um 23 Meter hebt den Seespiegel und flutet diese wertvollen Moorbiotope. Das bis zu 80 Jahre alte Gletschervorfeld würde komplett zerstört. Solch schwerwiegende Beeinträchtigungen in BLN-Gebieten sind nur dann zulässig, wenn ein gewichtigeres Interesse von nationaler Bedeutung vorliegt. Ein solches stellte das Verwaltungsgericht des Kantons Bern in seinem Urteil vom 25. Mai 2019 fest. Das ausgeprägte nationale Interesse an der Nutzung und am Ausbau erneuerbarer Energien rechtfertige die mit der Erhöhung verbundenen Eingriffe in die Landschaft.
Diese Einschätzung widerspricht aus Sicht von Aqua Viva den gelten Bestimmungen des Energierechts. Artikel 8 Absatz 2 der Energieverordnung verlangt bei bestehen- den Wasserkraftanlagen, die erweitert oder erneuert werden, zwingend eine Produktionssteigerung von mehreren GWh pro Jahr. Die Erhöhung der Grimsel-Staumauer bringt jedoch über das gesamte Jahr gesehen keine Mehrproduktion! Das Projekt schafft lediglich die Möglichkeit, einen Teil der Stromproduktion in das Winterhalbjahr zu verlegen. Von einem nationalen Interesse, das jenes am Schutz des BLN-Gebiets überwiegt, kann somit keine Rede sein.
Grenzen der Nutzung oder grenzenlose Nutzung?
Unser Energiehunger hat zum Klimawandel und zum Abschmelzen der Gletscher geführt. Die Gletscher haben dafür unberührte Lebensräume freigegeben, auf denen sich die Natur frei entwickeln kann. An der Grimsel sollen sie unter dem Deckmantel des Klimaschutzes nun wieder zerstört werden.
Die Herausforderung einer CO2-neutralen Energiegewinnung erfordert Engagement und Zugeständnisse von uns allen. Die Schweizer Gewässerlebensräume haben jedoch ihren Beitrag geleistet. Die Schweiz nutzt bereits 95 Prozent des verfügbaren Wasserkraftpotentials. Der Anteil der Wasserkraft an der gesamten Stromproduktion liegt bei rund 57 Prozent (4).
Fragen nach den ökologischen Folgen diskutieren wir häufig nur, wenn es um den Neu- oder Ausbau von einzelnen Wasserkraftanlagen geht. Im Vergleich zum Zugewinn CO2-neutraler Energie scheinen sie vielen vernachlässigbar. Schnell vergessen wir jedoch, was wir unseren Gewässerlebensräumen bereits abverlangt haben: Von 1900 bis 2010 haben die Moore 82 Prozent ihrer Fläche eingebüsst (5). Über 90 Prozent der ehemaligen Auen sind seit 1850 verschwunden (6). Fast alle grossen Seen in der Schweiz sind reguliert und weisen keine natürlichen Pegelschwankungen mehr auf (7). Lediglich fünf Prozent des Schweizer Fliessgewässernetzes gelten heute noch als vollständig intakt (8).
Der Ausbau der Grimsel-Staumauer wäre eine weitere Niederlage für unsere Gewässerlebensräume ohne substantiellen Fortschritt im Sinne des Klimaschutzes.
Hanspeter Steinmetz Dr., ist seit Juni 2019 Geschäftsführer von Aqua Viva. Er hat an der Universität Zürich Veterinärmedizin studiert und war für verschiedene zoologische Gärten im In- und Ausland in leitender Position tätig.
Quellen: (1) Leibundgut, Mary (2015): Gletschervorfeld Unteraargletscher. Seite 5 & 7. (2) Moorlandschaft Nr. 268 «Grimsel» von nationaler Bedeutung. (3) Schweizerische Eidgenossenschaft (2017): Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung BLN. BLN 1507/1706 Berner Hochalpen und Aletsch-Bietschhorn-Gebiet (nördlicher Teil). Seite 4. (4) www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/versorgung/erneuerbare-energien/wasserkraft.html. Zugriff 05.12.2019. (5) BAFU (2017): Biodiversität in der Schweiz. Zustand und Entwicklung. Seite 31. (6) Eawag (2013): Faktenblatt Gewässerraum. Seite 2. (7) BAFU (2017): Biodiversität in der Schweiz. Zustand und Entwicklung. Seite 31. (8) WWF (o.J.): Unsere Gewässerperlen. Seite 8.