StartHintergrundWissenVon den Äpfeln in den «Himmlischen Bergen»

Von den Äpfeln in den «Himmlischen Bergen»

Über die Herkunft und die Domestizierung des Apfels (Malus domestica) war bis vor Kurzem nichts Gesichertes bekannt. Lange wurde vermutet, dass der Holzapfel (Malus sylvestris) die Stammform des Kulturapfels sei. Heute weiss man, dass diese Vermutung falsch war. Der Kulturapfel ist ein direkter Abkömmling des asiatischen Wildapfels (Malus sieversii) aus dem zentralasiatischen Tian-Shan-Gebirge.

Der Originalartikel wurde in der botanischen Zeitschrift «FloraCH» (Ausgabe Nr. 9, 2019) veröffentlicht. Ein Artikel von Jürg Stöcklin.

Frucht aller Früchte

Äpfel sind in den gemässigten Breiten Eurasiens die wichtigste Obstart und gehören wie Weizen, Kartoffeln, Mais und Reis zu den Grundnahrungsmitteln. Heute kennen wir den Apfel vor allem als Tafelobst. Früher, als raffinierter Zucker noch keine Selbstverständlichkeit war, spielten Äpfel wegen ihres Zuckergehalts und ihres süssen Safts, und vielleicht noch mehr wegen des vergorenen alkoholhaltigen Mosts, eine tragende Rolle für die menschliche Ernährung. Bereits die Kelten und Germanen brauten aus vergorenem Apfelsaft und Honig Met und verwendeten dazu wohl den heimischen Wildapfel. Der süsse Kulturapfel kam erst später über die Seidenstrasse nach Westeuropa. Aufgrund der vielfältigen Verwendbarkeit von Äpfeln ist die Zahl ihrer Sorten ungemein gross. Im 19. Jahrhundert gab es in Deutschland über 20 000 Apfelsorten. Noch heute kennt man mehr als 6000, von denen allerdings nur noch wenige eine wirtschaftlich wichtige Rolle spielen. Die Bedeutung des Apfels spiegelt sich in unzähligen Geschichten und in der uralten Symbolik, die sich um diese Frucht rankt. Der Apfel gilt als Symbol der Liebe, der Sexualität, der Fruchtbarkeit, der Erkenntnis und er steht für die vielen süssen Verlockungen dieser Welt.

Apfel
Ast mit Äpfeln (Malus sieversii) aus dem Tian Shan © Kurt Werth

Herkunft dank molekularer Methoden geklärt

Die Herkunft des Kulturapfels ist erst seit Kurzem definitiv geklärt. 2012 wurde sein Erbgut entschlüsselt und damit zweifelsfrei nachgewiesen, dass sein Ursprung im abgelegenen Tian-Shan-Gebirge liegt, das sich über Staatsgebiet von China, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan erstreckt. Der Name des Gebirges kommt aus dem Chinesischen und bedeutet «Himmlische Berge». Dort wachsen auf 900 bis 1600 Metern Höhe noch heute mächtige, von Lianen bedeckte wilde Apfelbäume bis zu 30 Meter hoch und bilden fast reine Apfelbaumwälder. Die Variabilität der wilden Apfelbäume bezüglich Wuchsform, Fruchtqualität und Fruchtgrösse ist extrem gross. Es finden sich Individuen, die sich von der Form ihrer Früchte, deren Süsse und Geschmack kaum von unseren Kulturäpfeln unterscheiden. Die ursprüngliche Domestizierung des Kulturapfels aus Malus sieversii aus dem Tian Shan lässt sich 10 000 Jahre zurückverfolgen und geschah durch dortige Nomaden. Der domestizierte Apfel Malus domestica unterschied sich anfänglich genetisch und phänotypisch kaum von seinen wilden Vorfahren. Erst später, auf dem Weg über die Seidenstrasse nach Westen, erfolgte eine Diversifizierung durch Gen-Introgression (gelegentliche Hybridisierung) mit drei weiteren wilden Apfelarten (M. baccata, M. orientalis und M. sylvestris).

Die tragische Geschichte der Erforschung der wilden Apfelbäume im Tian Shan

Malus sieversii wurde ursprünglich im 19. Jahrhundert vom deutschen Pharmazeuten Carl Sievers beschrieben. 1929 entdeckte der weltberühmte russische Biologe Nikolai Vavilov (1887–1943) die Apfelwälder im Tian-Shan-Gebirge. Aufgrund ihrer hohen Diversität vermutete er, den Ursprung des Kulturapfels gefunden zu haben. Den Nachweis für seine These musste er vorerst schuldig bleiben. Vavilov nahm ein tragisches Ende. Von Stalin verfolgt wegen seiner angeblich «bürgerlichen» Wissenschaft, der Genetik, starb er 1943 im Gulag. Einer seiner Schüler war der kasachische Agronom Aymak Djangaliev (1913–2009), später selbst Opfer stalinistischer Verfolgung. Schockiert über die Zerstörung der Apfelwälder in Kasachstan während der Sowjetzeit, studierte er die Äpfel und ihre Biologie aufgrund der Hypothese Vavilovs Zeit seines Lebens trotz schwieriger Umstände. Er konnte nachweisen, dass Malus sieversii tatsächlich alle vererbbaren Merkmale des Kulturapfels besitzt. Aber am faszinierendsten ist, dass Djangalievs Untersuchungen eine andere Hypothese seines Lehrers bestätigten: Im abgeschiedenen Gebirge des Tian Shan entstand im Verlauf von Jahrmillionen eine für den Menschen bedeutende Obstart für einmal nicht durch unbewusste und später bewusste Züchtung, sondern durch die Gefrässigkeit von Bären. Es sind die Bären dieser Region, die vor allem die süssesten Früchte von Malus sieversii fressen und dadurch für die evolutive Entstehung des Vorläufers unseres Kulturapfels verantwortlich sind. Die Samen von Malus sieversii keimen erst, nachdem sie den Darm eines Bären passiert haben, und diese schlagen sich heute noch regelmässig die Bäuche mit Äpfeln voll.

Apfel
Malus sieversii aus dem Tian Shan © creative commons CABCN

Die Äpfel des Tian Shan sind eine Reserve für fehlende Resistenzgene

Das Wissen von Djangaliev über die Apfelwälder aus dem Tian Shan gelangte erst 1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, in den Westen, als amerikanische und europäische Wissenschaftler auf der Suche nach Resistenzgenen gegen die zahlreichen Schädlinge des Kulturapfels waren. Heutige Apfelsorten werden im Durchschnitt bis zu 35 Mal gegen Schädlinge gespritzt, damit sie die perfekte Qualität des heute angebotenen Tafelobsts erhalten. Wegen der jahrtausendealten Zucht und des häufigen Klonens fehlen ihnen die Resistenzgene gegen verbreitete Krankheitserreger. Die Apfelbäume aus dem Tian Shan sind dank der Arbeiten Djangalievs zu Hoffnungsträgern für unser Tafelobst geworden. Djangaliev, wissenschaftlicher Tempelhüter der Geheimnisse von Malus sieversii, starb 2009 und erlebte die Bestätigung seiner Forschungen durch moderne molekulare Analysen nicht mehr. Erreicht hat er jedoch durch seine Hartnäckigkeit, dass heute grosse internationale Anstrengungen unternommen werden, um die Reste der bedrohten Apfelwälder in Kasachstan zu schützen.

4 Kommentare

  1. Hochinteressant. Da ich Platz für Wildbäume habe, möchte ich gerne Malus sieversii pflanzen, wo kann man Baumsetzlinge bekommen?

    Danke für eine Auskunft

  2. Ich habe 5 Bäume selber aus Kerne gezogen. Die Bäume sind jetzt 4 Jahre alt und ca. 2,5 Meter hoch. Einer der Bäume hatte schon geblüht und auch Früchte getragen.
    Ich stratifiziere gerade die Kerne (ca.150) der Früchte um neue Bäume zu klonen.
    Die Kerne stammen aus Almaty/Transili Alatau dem Gebirge in Kasachstan den Himmlischen Bergen des Tian Shan.

  3. Mit grossem Interesse und immer grösser werdenden Augen habe ich zu meiner Erkundungsreise durch Kasachstan leserisch die Arbeit des Artikels als ein Feuerwerk der Erkenntnis genossen. Danke.

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